23 Apr

Europa – Meditation # 390

Europäer, wie sie in ihren blinden Spiegel starren.

Systole und Diastole, zwei Begriffe, die auch Goethe, der Dichter mit dem klassisch-globalen Blick, gern benutzte, um Prozesse nicht nur in der Natur anschaulich zu beschreiben – auch die Weltgeschichte ist mit diesen beiden Begriffen gut bedient, könnte vielleicht sogar zu einem neuen Narrativ taugen:

Was, wenn wir Europäer rückblickend die letzten 400 Jahre als einen systolischen Moment begriffen, in dem wir meinen konnten – wie mit einem nachhaltigen Einatmen – weltweit alles Fremde zu inhalieren, um es europäischen materiellen genauso wie ideellen Maßstäben unterzuordnen und auszubeuten, so lange der Vorrat reicht?

Und wie dieser Moment „natürlich“ zu einem selbstverständlichen geschichtlichen Geschehen – aus Sicht der Europäer – werden musste, dem dabei völlig, aber gerne entgangen ist, wie zufällig, einseitig, verlogen und kurzfristig diese Seh- und Erzählweise ist: Sie diente und dient lediglich dazu, die gewaltsame und unerbittliche Weltaneignung als Akt aufklärerischer, uneigennütziger und humaner Begegnung zu kaschieren.

So segelten – lange vor der Erfindung der Dampfmaschine – die großen Schiffe der Portugiesen, Franzosen und später noch mehr die der Engländer auf der bald – wie auf einer nassen Autobahn – als natürlicher Verkehrsweg ausgebauten Strecke hin und her und kamen stets reich beladen zurück. Mit Geschichten als Dekoration drum herum, die von lauter maritimen und missionarischen Wohltaten künden mussten. Kolonialwarenläden schossen aus dem Boden. Was für ein hübsches Wort aber auch!

The european and later the american way of life galt als unverwüstlicher und vorbildlicher Gesellschafts- und Weltentwurf – war aber nichts anderes als die selbstgefällige Haltung von knallharten Händlern, die Kasse mit fremden Rohstoffen und billigsten Arbeitskräften machen wollten. So selbstverständlich war den Europäern (und ihre nach Übersee ausgewanderten verarmten und fast verhungerten Auswanderer Generationen) ihr stolzer Blick in den Spiegel, dass ihnen dabei völlig entging, wie trüb, stumpf und schemenhaft das Bild längst geworden war, das natürlich auch in allen Schulbüchern als unwiderstehlich propagiert wurde – und wird.

Was aber nun, wenn nach diesem kurzen Moment der europäischen Systole jetzt im Windschatten der Diastole auf Europa ein Sog von jenseits des gesprungenen Spiegels auf die vergreisten Europäer und Amerikaner zukäme, der zu Lande wie zu Wasser in Siebenmeilenstiefeln und in seidenen Socken genauso unerbittlich und felsenfest von sich und seiner Botschaft überzeugt (wie „gestern“ noch die Europäer) bestehende Absatzmärkte mit clandestiner Gewalt zu übernehmen beginnt? In eleganter Geste vorgetragen und in einer Sprache, die kein Europäer versteht. Ein neues Narrativ, das einfach anstelle des bisherigen treten will und wird, weil es all das mitzubringen scheint, was dem verkalkten Westen abhanden gekommen ist: Eine neue Weltbotschaft, eine neue Seinsweise, eine neue Arbeits- und Gemeinschaftswelt, die aus schierer Quantität in eine völlig neue Weltqualität umschlagen wird – überwölbt von einem Bild einer anziehenden „Mitte“, die wie eine Zentrifuge alles drum herum zu sich hin völlig neu ordnet und unterordnet. Ein Sog eben. (Oder ein Tsunami ohne Wasser?) Für die nächsten 400 Jahre oder länger – oder zwischendrin erscheint als nachhaltige Störung von Systole und Diastole auf dem Welt-Monitor in Großbuchstaben dummerweise: ERRORERRORERRORERRORERROR….

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