Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 101
Europa findet am Meer zu neuer Zuversicht.
Ihr Herz ist übervoll mit wohltuenden Gefühlen, denn ihre Freundin hatte ihr eine Botschaft überbracht, die sie so glücklich macht wie nie. Denn trotz der großen Gefahren, denen sie schutzlos ausgesetzt war, fühlt sie sich nicht bedrückt, verängstigt oder sogar mutlos. Nein. Wie unvermeidliche Prüfungen kommen ihr jetzt die Vorfälle vor, und das schrille Geschrei der drei Raben kann sie auch nicht mehr erschrecken. Denn ihre große Göttin hält ihre Hand über sie. Seit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter – an den mörderischen Vater will sie gar nicht denken (und sie weiß ja auch nicht, dass er inzwischen gefallen ist) – seit ihrer Entführung und ihrer Flucht aus der Höhle hat sich ihr Leben so sehr gewandelt, dass sie jetzt voller Zuversicht und Pläne im Abendsonnenlicht allein zum Meer gelaufen ist. Sie braucht die Stille, die Brise, das leise Wellenrauschen.
Lange steht sie so da. Schaut über das Wasser und fühlt sich leicht und beflügelt. Ich könnte jetzt, beginnt sie mit sich zu sprechen, ich könnte jetzt die ganze Welt umarmen. Mit weit ausgebreiteten Armen steht sie lange so da. Atmet tief ein und aus. Langsam. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das tut gut. Da sieht sie verschwommen auf dem Wasser die Delfine kommen. In einem großen Kreis schwimmen sie vor ihr in der Bucht. Europa stellt ihnen gleich eine Frage: Schickt euch die große Göttin? Ein helles und lautes Tönen fliegt da vom Wasser zu ihr hin. Vielstimmig antworten sie ihr. Dabei tauchen sie elegant unter und schießen schäumend wieder hervor, drehen sich in der Luft, rufen laut und lassen sich wieder fallen. Sie plappern durcheinander, scheinen ganz aufgeregt, soviel haben sie zu erzählen. Europa weint Tränen des Glücks dabei. Sie hört zu, versucht zu verstehen, was sie wohl meinen könnten. Es klingt fröhlich, vorwitzig, beschwingt und unbeschwert.
Und als jetzt im Westen der goldglänzende Wagen des Sonnengottes seine Fahrt beendet, kommen die Delfine noch einmal ganz nahe zu ihr hingeschwommen. Jetzt aber still und mit wenig Bewegungen, ihre großen Augen scheinen ihr zuzulächeln. Dann – wie auf ein geheimes Kommando – wenden sie sich dem offenen Meer zu. Europa kann es nicht fassen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie als Mensch alleine hier am Wasser steht und Wasserwesen zuschaut, als wären es enge Verwandte von ihr. Das kühle Wasser, das über ihre Füße gleitet, wie ein weiches Band schwesterlicher Verbundenheit zwischen ihr und ihnen. Vertraut. Eine Welt, ein Leben in all seiner Vielfalt und Pracht. Ein Augenblick, der sie stärkt und in ihren Plänen bestärkt: Hier, auf dieser Insel, hier will sie mithelfen, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiterzugeben.