12 Jul

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 103

Der Sturz von der hohen Klippe.

Nemetos und Thórtys hat es nun doch noch erwischt. Starr vor sich hin blickend hocken sie im dunklen Verlies und warten. Niemals hätten sie sich auf den Plan von Woltónos einlassen dürfen. Niemals. Die Rachegöttinnen haben einfach den längeren Atem.

Schritte im Gang. Die schwere Holztüre wird geöffnet.

„Los, raus, ihr zwei!“

Die Wächter packen sie unsanft an und stoßen sie hinaus. Die beiden wissen, was jetzt folgen wird. Kurzer Prozess, sie kennen das. Nur waren sie bisher immer Zuschauer gewesen, wenn verurteilt wurde. Ein wohliger Schauer war ihnen da stets über den Rücken hinunter gelaufen. Man war ja Zuschauer und nicht Angeklagter. Jetzt waren sie selber an der Reihe.

„Ihr seid Handlanger des ehemaligen Herrn der Bücher, Zahlen und Namen gewesen? Ist das richtig?“

Die Stimme des Richters schneidend und leise zugleich. Nemetos und Thórtys nicken nur. Was sie nicht verstehen, ist aber, dass Sardónios nicht mehr der Stellvertreter des Minos sein soll. Was ist da passiert?

„Stimmt es, dass Sardónios euch angestiftet hatte, die Hohepriesterin und die Fremde zu töten?“

Woher weiß der Richter davon? Die beiden trifft die Frage wie ein Blitzschlag.

„Nein, wir, wir kommen doch gerade vom Westen der Insel…“ beginnt Németos hastig zu antworten. Aber der Richter lässt ihn gar nicht erst ausreden.

„Schweig, Lügner. Sardónios selbst hat es vor dem Rat der Alten und dem Minos von Kreta zugegeben. So seid ihr jetzt doppelt schuldig. Es braucht keiner weiteren Untersuchungen. Das Urteil ist klar: Die Klippe.“

Beide schreien auf vor Schreck und Entsetzen, sie gehen wimmernd in die Knie, flehen um Gnade. Aber sie wissen, es ist alles verloren. Schon wird der große Gong geschlagen. Die Leute strömen aus ihren Hütten. Sie wissen, was das bedeutet. Sie werden Zeugen sein wollen. Die Urteile werden stets im Abendlicht vollstreckt.

Gefesselt werden sie vor der johlenden Meute her getrieben, sie stolpern, man lacht hämisch dazu. Gerüchte springen von Mund zu Mund, alle wollen es gewusst haben. Geschieht ihnen recht. Eine kleine Staubwolke zieht hinter dem traurigen Zug her wie ein Fahne nach einer verlorenen Schlacht. Es ist kaum mehr Leben in ihr, die Abendbrise hebt sie nur schwach.

Dann stehen sie beide auf der Klippe. In gehöriger Entfernung die neugierige Menge. Das Urteil wird laut verkündet. Németos und Thórtys starren in die Tiefe. Weit, weit unten, auf dem felsigen Ufer erkennen sie Möwen die gelangweilt zu warten scheinen. Niemand wird sie hinunter stoßen. Sie müssen selbst den Schritt ins Leere gehen. Zwei fürchterliche Schreie bekommt die Menge zu hören. Und Möwengeschrei. Sonst nichts.

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