Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 115
Die Rückkehr der glücklosen Brüder nach Sidon / Teil II
Die drei schaffen es doch nicht vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Sidon, ihrer Heimatstadt. Im Windschatten eines roten Felsenüberhangs fallen sie in tiefen Schlaf. Träume quälen sie dabei immer wieder. Ein grässlicher Riese – ihrem Vater, Agenor, König von Sidon und Phönizien nicht unähnlich – wirft sie wie welke Blätter ins Meer. Schreiend und mit Herzklopfen schrecken sie hoch.
„Ich hatte einen fürchterlichen Traum“, flüstert Kadmos in die mondlose Nacht.
„Ich auch.“ Kilix traut sich gar nicht, seinen Brüder zu erzählen, was er geträumt hat. Vater und Mutter als Totengeister in Höhlen umherirrend, er ruft sie an, sie antworten nicht, scheinen ihnen nicht einmal zu hören. Dann lachen sie höhnisch und lösen sich in Nebelschwaden auf.
„Und ich erst!“ meldet sich stotternd Phoinix, „ich lief hinter unserer Schwester her. Rief laut ihren Namen: Europa, Europa! Da dreht sie sich um, aber sie ist es gar nicht, es ist eine andere, eine Priesterin, ich kenne sie nicht. Sie lacht mich aus und weg ist sie.“
Die drei Brüder starren in die kalten Nacht. Was hat das zu bedeuten? Warum schicken ihre Götter ihnen solche Träume?
Sie finden keinen Schlaf mehr. So brechen sie noch vor dem Morgengrauen auf. Sidon. Was wird der Vater sagen? Sie kommen unverrichteter Dinge zurück.
Als über den Hügeln im Osten schließlich kalt und bronzen die Sonne aufgeht, können sie es nicht fassen, was sich ihren Blicken bietet:
Da, wo ihre stolze Geburtsstadt liegt, jetzt nichts als Trümmer. Die Stadtmauer eingerissen, Häuser, Paläste, alle eingestürzt, schwarz von Ruß die Reste. Ist das ein weiterer Albtraum, fragen sich die Brüder. Wie benommen nähern sie sich der nun von der Morgensonne mitleidslos beleuchteten Ruinenlandschaft, ihrer Stadt.
Am ehemaligen Stadttor finden sie schlafende Menschen. Hunde, Katzen, Maulesel stehen hungernd in ihrer Nähe; wie ein zerstörtes Standbild mutet es an, wie ein Trauerspiel auf einer verwaisten Bühne, wie lebend tot.
„He, du, wach auch!“
Die Brüder rütteln einen der Schläfer auf. Es ist eine Alte. Sie rührt sich kaum.
„Hä, was soll das, lasst mich in Ruh oder bringt es zu Ende, gleich!“ zischt sie die Drei an.
„Wir sind König Agenors Söhne, sag uns, was hier geschehen ist!“
Da bekommt die alten einen fürchterlichen Kicher- und Lachanfall, sie hustet, schluckt, kreischt:
„Des Köngs Agenors Söhne. Ihr Armen, da seid ihr nun Waisenkinder, Agenor und das gesamte Heer gibt es nicht mehr. Ufroras, der König der Assyrer,und seine wilden Horden haben alles niedergemacht, gnadenlos, alles! Die Rache des gehörnten Brautwerbers.“