Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 173
Die Eile der alten Ratsherren lässt die Gerüchteküche heiß laufen.
Kaum hat der Herold die schlimme Botschaft allen kundgetan, kaum sind die schwarzen Tücher über die langen Wände des Palastes herunter gelassen worden und das große Feuer angefacht, da beginnt auch schon das Flüstern und Raunen:
„Was geht da hinter den Mauern vor sich? Kaum ist der alte Minos tot, schon ziehen die Ratsherren die Fäden.“
„Klar doch, dass die Fremde, diese Europa, tot sein soll, passt denen sicher wunderbar in den Kram.“
„Wieso? Die tun doch nur ihre Pflicht, oder?“
„Pflicht, Pflicht. Die wollen ihre eigene Macht sichern, die wollen die Gunst der Stunde nutzen und einen Mann zum Minos wählen, der ihnen passt. Die Zwillinge der Europa passen ihnen doch überhaupt nicht.“
„Vielleicht hat es dieses Unwetter ja gar nicht gegeben. Vielleicht…!“
„Vielleicht! Die würden doch nie so etwas machen, wenn die sich nicht sicher wären.“
Die Männer, die da gerade tratschend beieinander stehen, wechseln abrupt das Thema, als zwei Ratsherren mit wichtigen Mienen an ihnen vorbei eilen.
„Hast du gesehen, was die für Gesichter machen?“
„Schauspieler, nichts als Schauspieler.“
Man nickt, lacht und spielt selbst die Wissenden. Aber die Unsicherheit ist dennoch allen ins Gesicht geschrieben.
Einige eilen zum Tempel der großen Göttin. Vielleicht erfahren sie ja mehr von der Hohepriesterin Chandaraissa. Die einfachen Leute hier oben vertrauen ihr mehr als den Ratsherren, auch die unten im Hafen stehen in kleinen Gruppen herum und flüstern miteinander. Wer wird der nächste Minos werden? Diese Frage bewegt alle am meisten. Aber immer wieder kommt das eigentliche Thema dahinter nach vorne:
„Woher wissen die denn so genau, was passiert ist? Hat es diesen Sturm überhaupt gegeben? Und hat es keine Überlebenden gegeben?“
„Sollte man nicht besser abwarten, bevor man dieses Totenstück mit so großem Pomp aufführt?“
„Was, wenn die für tot erklärten, plötzlich zurückkehren?“
„Was, wenn man den Falschen zugestimmt hat?“
Jetzt tönen wieder von dem Podest hoch oben auf dem Palast die Totenhörner mit ihrer zu Herzen gehenden Melodie. Und das große Feuer vor dem Palast des Minos beleuchtet unheimlich das riesige Gebäude, das jetzt – völlig verdeckt mit schwarzen Tüchern – auf die verängstigten Bürger den Eindruck macht, als läge da ein monströses Ungeheuer aus der Unterwelt, das jeden Augenblick aufspringt und sie alle blutrünstig verschlingt.
Im großen Tempel – er hat sich inzwischen gefüllt mit verunsicherten Menschen – erhebt gerade die Hohepriesterin beschwichtigend ihre Arme, verneigt sich tief vor dem großen Abbild der Göttin, erhebt erneut die Arme und spricht dann so zu den Rat Suchenden:
„Wir sind nicht allein. Die Göttin hält schützend ihre Hände über uns. Seht nur, wie sie mild lächelnd auf uns herab schaut, wie sie uns Trost spendet.“
Dann schweigt Chandaraissa lange. Vier junge Priesterinnen füllen die großen Metall-Schalen erneut mit Weihrauch, werfen glimmendes Holz dazu und fachen die Glut mit großen Fächern an. Dahinter stehen die anderen Priesterinnen, wiegen ihre Körper hin und her und summen leise, aber sehr eindringlich, die alt bekannte Melodie zu Ehren der großen Göttin. Dann ergreift Chandaraissa erneut das Wort: „ Sie waren unterwegs zum Orakel von Sidon – Europa und ihre beiden Söhne, die kommenden Herren in Kreta – sie wollten Gewissheit holen. Sind sie gescheitert? Sollte es nicht sein? Oder werden sie doch – von unserer Göttin behütet – heil zurückkehren?“ Kaum hat sie diese Fragen ausgesprochen, da geht ein Schrei durch die hohe Halle des Tempels, erschrocken flattern oben die Vögel aus ihrem Dämmerschlaf: „Ja, ja – so soll es sein, so soll es sein!“