Europa – Meditation # 172
Die Europäer finden in der Not zu sich selbst
Not? Welche Not denn? Nun, altvertraute Muster erweisen sich nach und nach als nicht mehr glaubwürdig, empfehlenswert, zukunftsweisend. Im Gegenteil, die enge Bindung an den ehemaligen Befreier vom faschistischen Joch, die man lange als gewinnbringende Freundschaft verstanden wissen wollte, entpuppt sich nun als Ausverkauf eigener Identität und kultureller Besonderheit.
Die Rahmenbedingungen amerikanischen Wirtschaftens zwangen die europäischen Länder mehr und mehr, sinnvolle gesellschaftliche Bindungen nicht nur zu lockern, sondern preiszugeben und sie dem freien Spiel wirtschaftlicher Profitmaximierung unterzuordnen.
Die Resultate sind ernüchternd: Der Energiebereich schuf zwar Gewinne, aber keine gerechte Verteilung, der soziale Bereich schuf zwar neue Chancen, aber keinen halbwegs gerechten Lastenausgleich und der kulturelle Bereich öffnete sich zwar vielen neuen Themen, höhlte aber heimlich, still und leise alte Identitäten nachhaltig aus.
Die frohe Botschaft der atlantischen Freunde – Wohlstand, Wachstum, Tempo, Automatisierung, ungebremste Geldgier und globale Digitalisierung – lässt die Beglückten nun dastehen vor einem ideologischen und philosophischen Scherbenhaufen. Denn behutsames Nachdenken, bedächtiges Verweilen im Hier und Jetzt und die Wertschätzung europäischer Traditionen und kultureller Besonderheiten, waren leichtfertig über Bord geworfen worden.
Gerne hatte man die eigene Sprache mit dem Vokabular jener frohen Botschaft aufgepeppt, vergaß aber, den eigenen Kindern solides Lesen und Schreiben – vom ordentlichen Schwimmen ganz zu schweigen – beizubringen.
Der Katzenjammer, der jetzt – scheinbar völlig unvorhersehbar – die Europäer erfasst, weil Freundschaft, Solidarität und Respekt vor dem eigenen Geworden Sein mit Geringachtung bedacht wurden, schlägt über Nacht um in alte Muster, die doch als überlebt und untauglich galten. Weit gefehlt: hinter dem biederen neuen Begriff illiberale Demokratie verschanzen sich die Verängstigten, Verschreckten und „Verkannten“ – europaweit. Und weltweit – in den USA, in Indien, Russland und Brasilien – werden ebenfalls die Karten neu gemischt: nach ähnlich untauglichen Mustern, die schon einmal zu Lasten derer ausprobiert wurden, die sich davon Hilfe und mehr Wertschätzung erhofft hatten. Da feiern konfuse Ängste und überzogenes Geltungsbedürfnis unschöne Koalitionen. Aber Angst machen, gilt nicht. Überall in Europa nehmen junge und alte Leute ihre anstehenden Probleme selber in die Hand – ob es nun soziale oder ökologische sind, ganz gleich – und pfeifen auf die Phrasen der Parteigrößen. Volksparteien? Was ist das denn? Regionale Bündnisse können viel ehrlicher und überzeugender Menschen für Menschen in Bewegung setzen. Man kennt sich, man vertraut sich, man hilft sich.