08 Dez

Europa – Meditation # 238

Das Unvorstellbare Tun.

Das laute Geschrei derer, die zurück zum Status quo wollen, ist nichts anderes als die kalte Angst, die ihnen im Nacken sitzt:

Einmal – weil deutlich werden könnte, bzw. deutlich wird, dass die bisher als Erfolgsgeschichte beworbene Beschleunigung vom Analogen zum Digitalen weit an dem vorbei schießt, was menschliches Gehirn in Echtzeit verkraften kann.

Zum anderen – weil Ermüdungserscheinungen unübersehbar werden. Im Material – der Produktionkette der Warenwelt, wie im Leben selbst. Wozu das alles denn?

Angesichts der uferlosen Weite des Äthers und angesichts der unaufhaltsamen Zeit, sowie der zahllosen Bilderwelten, die in den Gehirnen Tag und Nacht auftauchen und wieder verschwinden, schien bisher die verordnete Ordnung in Raum und Zeit, in Zahl und Wort beruhigend auf die Gemüter zu wirken: Wir sind Herren des Werdens und Vergehens, wir haben uns nicht nur den Planeten untertan gemacht, nein, wir haben uns auch den Sturz ins Nichts ersetzt durch einen eingebildeten Flug auf einem fliegenden Teppich, der zwar manchmal gefährlich schwankt, aber der doch zu fliegen scheint. Und dank der Herren Descartes und Locke halten wir inzwischen die Welt für überschaubar, erklärbar und beherrschbar, weil in berechenbaren Mustern – zumindest probeweise – nachvollziehbar verortet. In einer Sprache, die jedes Kind lernen und verstehen kann und muss.

Bis zum Jahre 2020.

Da geschieht etwas Unvorstellbares: Arbeitsprozesse in riesigen Montagehallen werden still gelegt. Flughäfen veröden drinnen wie draußen und Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr anlegen, weil das Virus an Bord als blinder Passagier einfach mit gekommen war. Gegen wen wollen diese Kreuzfahrer eigentlich zu Felde ziehen? Gegen den eigenen Glauben an das Märchen vom endlosen Wachstum?

Erschrocken verordnen sich die Europäer – die Chinesen hatten es ja rigoros vorgemacht – Ausgehverbot, Vergnügungsverbot, Mobilitätsverbot. Was kein Europäer je für denkbar gehalten hatte, findet von einem auf den anderen Tag einfach statt. Und alle spielen mit. Die Angst als Droge dabei zum Durchhalten. Und in diesen Schrecksekunden im freien Fall durchs All überlegen hier und da einige, ob man „hinterher“ nicht einiges anders gestalten könnte und sollte – wegen dem Klima global und dem Klima zwischen den Menschen, die mehr und mehr in der Beschleunigung sich selbst abhanden zu kommen drohen. Think tank 3.0 oder besser gleich 4.0 !

Dann aber kommt der Sommer. Alle wollen los, auf Reisen, endlich wieder Spaß haben. Sie hatten ihn. Das Virus auch. Jetzt – im nasskalten November 2020 – das gleiche noch einmal? Wie lange, wozu? Es könnte der Moment der Wahrheit werden: Unser fliegender Teppich existiert gar nicht. Wir haben uns gerne getäuscht. Jetzt aber wird es Zeit, in den Spiegel der eigenen Existenz, der species und des Planeten zu schauen und mit einem Leben zu beginnen, das nur deshalb als unvorstellbar bisher galt, weil wir es uns immer wieder wiederholt haben. Es ist d i e Chance, erstmals uns selbst zu begegnen als das, was wir wirklich sind: kurze Besucher auf einem verschlungenen Weg zu sich selbst.

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