12 Apr

Europa – Meditation # 260

Wir Europäer – heillose Sprachakrobaten.

Schon in der Renaissance rissen die Künstler und Philosophen Europas die vertrauten Muster ein, experimentierten mit altem Material, das sie sich neu erschufen, demontierten den Himmel mit seiner göttlichen Dreifaltigkeit und sahen ihr Heil in der Flucht nach vorn – ins Unbehauste, in die sogenannten metaphysische Obdachlosigkeit. Ab da galt eigentlich nur noch das Labor als Zuflucht – immer im Wechsel das physikalische mit dem philosophischen. Man spielte sich die Bälle zu, tat dabei aber immer so, als sei es kein Spiel, sondern „natura pura“, denn auf die Natur mit ihren Gesetzen war allein noch Verlass, dachte man. Mendel und Darwin lassen grüßen.

Dann wurde man mutiger und wollte gleich auch noch das Weltall kartieren und definieren. Irgendwann kam ein kluger Mann auf die Idee vom sogenannten Urknall – die Geburtssekunde von „Allem“.

Längst waren Begriffe wie Theorie, Modell, Hypothese zu bodenständigen Begleitern der Denker geworden, so sehr, dass sie ihre eigentliche Bedeutung mehr und mehr verloren und stattdessen zu konkreten Eckpfeilern in Schlussfolgerungen wurden, die dann zu gelten haben – zumindest vorläufig. So steht – zumindest nach dem kosmologischen Standard-Modell – fest, dass sich dieser Knall vor „etwa“ 13, 8 Milliarden Jahren ereignet haben dürfte. Am Anfang also ein Singularität. Selbst der Konjunktiv verliert hier seine Möglichkeitsform und changiert zu einer Wirklichkeitsform für die Naturwissenschaftler.

Später meinten die Theologen feststellen zu können, dass am Anfang das

W O R T

steht, was schwer zu widerlegen scheint, da wir ja nur mit Hilfe der erfundenen Wörter – und dazu kann man natürlich auch das Wort

Z A H L

zählen – den Urknall als Urknall bezeichnen können. So drehen wir uns wie die Derwische im Kreise, berauschen uns an den eigenen Sprachbildern, bis uns schwindlig wird. Dann machen wir eine Pause, gehen demütig in uns und gestehen uns unsere eigene Fehlerhaftigkeit zu.

Hat doch gerade eine neue, junge Generation der Teilchenphysik in genau messbaren Anordnungen feststellen müssen, dass es da ein Myon geben muss, das sich einfach nicht an die bisherigen Spielregeln halten will. Alarm im Teilchenzirkus!

Marlene Weiss schreibt dazu u.a. in der SZ :

„All die schönen Ideen, wie man das unordentliche und unperfekte Standard-Modell vereinfachen könnte, ließen sich partout nicht bestätigen, ganze Theorie-Gebäude, bezugsfertig, standen als Luftschlösser da.“

Nicht nur mit Begriffen hat der homo sapiens atemberaubende Kartenhäuser errichtet, nein, auch mit Bildern, die die Begriffe ins Bild setzen sollen.

Wenn es den Teilchenphysikern nicht so todernst wäre, könnte man als Laie glatt auf die Idee kommen, es handle sich um einen verspäteten Motto-Wagen aus dem ausgefallenen Karnevalszug in Atlantis. Dazu noch ein weiteres Zitat von Marlene Weiss:

„In diese Gemengelage hinein kam nun die lange erwartete Messung der Myon-g-2-Kollaboration.“ (Man darf beim Lesen natürlich laut lachen, klar!).

„Das am Fermilab im US-Bundesstaat Illinois angesiedelte Experiment misst das ‚anomale magnetische Moment‘, das das Myon, ein mit dem Elektron verwandtes Teilchen, auf dem Weg durch ein Magnetfeld zum Wackeln bringt. Und die neuen Daten bestätigen nun frühere Beobachtungen: Der gemessene Wert ist minimal größer als die theoretische Vorhersage, die Myonen wackeln nicht so, wie sie sollten.“

Die Teilchenphysiker g l a u b e n zumindest, den Philosophen in Sachen Wirklichkeitsbeschreibung längst den Rang abgelaufen zu haben, wahrhaftige Sätze über die Natur der Dinge zutreffend formulieren zu können.

Vorhersagen nennt man im Volksmund eigentlich „Einbildungen“, denen man leicht mit etwas Selbsthilfe-Übungen auf die Sprünge helfen kann.

Nur haben die Naturwissenschaften inzwischen um sich herum einen solch hehren Beschwörungskreis gelegt, dass alle, die außerhalb dieses Kreises zuschauen eben keine Ahnung haben, was innerhalb des Kreises alles möglich ist, wenn man nur ein fundiertes theoretisches Bild in die Mitte zu stellen weiß. Die Laien können also nur noch erschüttert erschauern vor solch radikal uferlosem Genauigkeitsglauben und Sprachritualen.

Das ist nicht zuletzt der Grund, warum akademische Arbeit bei weitem höher bewertet und bezahlt wird, als zum Beispiel die anstrengende und gefährlich Arbeit unter Tage oder das wirkungsvolle Bestellen eines Getreidefeldes.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert