22 Jun

Europa – Meditation # 270

Europas Geschichte in Geschichten gestern, heute, morgen.

Früher waren es die alten Frauen und Druiden, die raunend fabelhafte Geschichten erzählten, immer wieder, bis sie sich im Gedächtnis der zitternden Zuhörer so fest eingenistet hatten, dass sie als wahr empfunden wurden.

Dann – mit der Schrift und danach mit den Büchern – konnten die Geschichten vorgelesen werden, Jahr für Jahr vor dem Einschlafen oder wenn ein Kind krank im Bett lag; und wieder schmeichelten sich die Figuren und Erlebnisse tief ins Gedächtnis ein, als wären es Weggefährten oder gar Freunde – die Frage, ist das denn auch wahr, musste also gar nicht erst gestellt werden.

Eingebettet waren solche Geschichten und Gegenden, durch die kleine und große Flüsse strömten, in denen kleine und große Berge treu zur Seite standen, in vertraute Landschaften, Heimat eben, die das Kind nach und nach bewusst erlebte und durchwanderte. So stellte sich ungefragt und einfach so Geborgenheit ein, die jeden umhüllte wie ein warmer Mantel.

Und untereinander dann konnte man sich die Stichworte zurufen: Hans guck in die Luft, Camelot, Hagen, Loreley, Roland, Castel del Monte, Münchhausen, der gestiefelte Kater, Gulliver, Jeanne d‘Arc, die katalaunischen Felder… und ein verschwörerisches Nicken als Antwort: ja, wir kennen uns, wir sind verwandt.

Aber die Menschen erfanden sich neue Möglichkeiten, Geschichten über sich und die Welt zu hören und zu sehen, die sich bis ins hinterste Gebirgstal ihren Weg bahnten. Jeder konnte sie nun kennenlernen – zu jeder Tages- und Nachtzeit und so oft er wollte. Europaweit, weltweit.

Aber das Tempo des Hörens und Sehens nahm derart zu, dass keiner mehr sich merken konnte, was er sah und hörte, zu schnell rauschte es an ihm vorbei. Statt Geborgenheit stand nun die Einsamkeit vor der Tür.

Generation auf Generation huschte nun von Bild zu Bild und konnte doch nicht den Durst stillen nach Einkehr und vertrautem Raum.

Auch geht mehr und mehr das Vertrauen in das Wort oder gar in eine Geschichte verloren, denn jeder kann ja jedem viel erzählen. Wo soll da denn die Wahrheit sein?

Statt des warmen Mantels haben nun die Menschen kaum mehr etwas Wärmendes auf der Haut, man will eins zu eins und überall zu Hause sein und stilisiert sich die unablässige Flucht zur intensiven Dauergegenwärtigkeit, die auch den Schlaf höchstens in kleine Schubladen verbannt.

So gilt jetzt europaweit und weltweit die verzehrende Müdigkeit ob so vieler Bildergeschichten nicht als Warnung, sondern nur als Anreiz, sie mit noch mehr Bebilderung zuzudecken, als wäre sie dann futsch, die mahnende Müdigkeit. Das unterschwellige ungute Gefühl dabei lässt sich dieser Tage wunderbar mit spannenden Bildern von unberechenbaren Ball-Flugbahnen übertünschen.

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