Europa – Meditation # 391
J a v i e r M a r í a s meldet sich zum Thema „Krieg“ zu Wort
Während die moralisch Empörten eng zusammen stehen, die einen Verteidigungskrieg führende Ukraine militärisch massiv unterstützen und diese Position gebetsmühlenartig für alternativlos betonieren und die zu Defätisten erklären, die eine abweichende Sehweise favorisieren oder sie gleich strengstens disqualifizieren als unzumutbare Querdenker – AfD nah, versteht sich – laufen die Maßstäbe für eine gewaltfreie Welt mehr und mehr aus dem Ruder: Nur wer das gegenseitige Töten unbarmherzig mitträgt, gilt als satisfaktionsfähig. Der Ehrenkodex der Waffenindustrie wird so zum Grundmuster der Gestaltung von Konflikten. Die abweichenden Positionen sollen marginalisiert wirken – doch: sind sie es auch?
Ist die Formel im von den Alliierten besetzten ehemaligen Deutschen Reich:
„N I E W I E D E R K R I E G“
aus den Jahren nach 1945 – nach mehr als 50 Millionen Toten (!) weltweit – also eine naive, zeitgebundene Sehweise, die wir möglichst schnell wieder vergessen sollten, weil sie so peinlich ist?
Javier Marías liefert in seinem letzten Roman – er starb kürzlich unerwartet an den Folgen der Pandemie – einen Beitrag zu dieser heftigen Debatte, die uns Europäern zu denken geben könnte: „Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher.“
Angesichts einer nicht nachprüfbaren Berichterstattung im Kriegsgebiet und im Feindesland wäre es wünschenswert, wenn wir unsere eigenen Berichte und Kommentare dementsprechend vorsichtig und offen gestalteten, um nicht in diesem Sog von Täuschung und Verrat mit verschlungen zu werden.
Denn die, die am Krieg gewinnen, halten sich selbstverständlich vornehm zurück und konsultieren lieber die eigenen Kontoauszüge, statt sich als die eigentlichen Gewinner bloßstellen zu lassen. Und da die Emotionen hoch gehen, der Blick verdüstert, benebelt oder hysterisch aufgeheizt nur noch schemenhaft das Thema in den Focus bekommt, lassen wir den spanischen Autor Javier Marías zur Sache sprechen, damit die Temperatur vielleicht wieder ein bisschen sinkt und Raum und Zeit entsteht, die eigene, festgefahrene Position – zumindest probeweise – in Frage zu stellen:
„Der Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher. Und ich war noch weiter gegangen: „In manchen Situationen kann man unmöglich nach dem Gesetz handeln oder bei jeder Initiative um Erlaubnis bitten. Wenn der Feind das nicht tut, verliert und scheitert immer der, der Skrupel hat. So ist das im Krieg, seit Jahrhunderten. Dieses moderne Konzept der ‚Kriegsverbrechen‘ ist lächerlich und dumm, denn der Krieg besteht in erster Linie aus Verbrechen, an allen Fronten und vom ersten bis zum letzten Tag. Also eins von beiden: Entweder man geht unter, oder man ist bereit, die entsprechenden Verbrechen zu begehen, die für den Sieg vonnöten sind oder einfach nur zum Überleben.“
(aus Javier Marías – Tomás Nevinson. Roman 2022, S. 634)