Europa – Meditation # 443
Die ganz große Truman-Show.
Überschaubar waren die historisch gewachsenen Gemeinschaften auf dem kleinen Kontinent Europa. Man kannte sich. Man war verwandt. Man pflegte Beziehungen, um Waren zu tauschen, um Bücher zu übersetzen, um Reisen zu machen. Um Schönheit zu erschaffen aus Stein oder mit Farben. So verschieden ihre Kunstwerke auch waren, immer schienen sie aufeinander zu zeigen: Schaut, wir kennen uns. Denn das Fremde blieb selbst an seinen Rändern vertraut. Die Legenden, Märchen, Epen und Erzählungen holten ferne Orte wie auf fliegenden Teppichen getragen in die Phantasie der Menschen. Dort wurden sie nicht nur aufbewahrt, nein, sie wurden auch weiter erzählt, variiert, neu beantwortet. Tausend Jahre und mehr. Selbst der Mythos von Europas Entführung ließ sich immer wieder neu erzählen. Die Männer in ihrer Deutung, die Frauen in der ihren. In Sitten und Gebräuchen, in Musik und Tanz, in Masken und Kostümen schwelgten sie in schöner Selbstgewissheit und vertrauten Räumen, und die natürlichen Grenzen in Europa – Gebirge, Flüsse und fruchtbare Ebenen – wurden geachtet und geschätzt. Sie waren alte Zeichen gewachsener Distanz, die aber Reisende und Kaufleute immer wieder gerne überwanden. Besonders ihre Sprachen hallten wider von gemeinsamen Wurzeln – im Osten wie im Westen.
Dann aber wuchsen erfundene Feindschaften – oft aus überhöhtem Nationalstolz – und führten zu schlimmen Kriegen: der Dreißigjährige, der Siebenjährige, Revolutionskriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg – und schon kündeten Schutt und Asche und Millionen toter Soldaten (lauter Begabungen, die Europa für immer verloren waren) von völlig fehlgeleiteten Narrativen. Auch hatten sich die Europäer militärische Hilfe aus Übersee geholt, die sie seitdem nicht mehr los werden: Denn aus der Hilfe ist längst eine unselige Assimilation geworden, die dazu geführt hat, dass die Europäer leichtfertig ihre eigenen Traditionen über Bord warfen und nur noch auf Wachstum, Konsum und Neoliberalismus setzen. Die Folgen für Europa sind nicht nur überwältigend, sondern auch zunehmend nachhaltig: Als befände sich Europa in einer riesigen Truman-Show-Glasglocke, über der große überseeische Großunternehmen hocken und die Regie führen: Gezielt werden ganz bestimmte Bereiche besonders grell ausgeleuchtet, andere besonders gefördert, aber vor allem der europäische Konsument still gestellt, indem er wie benommen vom scheinbaren Zauberwerk des Algorithmus 0/1 in die Irre geleitet wird. Gerne stellt er seine heimlichen Vorlieben als Datensalat zur Verfügung, um sich dann innerhalb dieser riesigen Truman-Blase in kleineren Bläschen zu tummeln – Tag und Nacht – und sich dann völlig überrascht und selig zu wundern, wenn ihm passgenaue Angebote aus der großen Truman-Blase auf den Monitor purzeln. Das ist ja fast schon Schlaraffenland, denkt er trunken ob solch schöner Zufälle. Die Statussymbole, für die er sich „den Arsch aufreißt“, die Mobilität, die er für echte Freiheit hält und die Bringdienste, die er ununterbrochen und unerbittlich mithilft auszubeuten, all das hat ihn weit weg katapultiert von dem, was ihn einst als Europäer ausmachte. Das zunehmende Tempo, das er fleißig mit bedient, macht ihn zwar schlaflos und oft auch burn-out-affin, aber er erklärt er sich längst als den Gang der Dinge eben, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, denn sonst ist man weg vom Fenster!