Europa – Meditation 5
Europa – Meditation # 5
„Es ist etwas Großes, in diesem Weltenbrand ein Mitwirkender zu sein.“
Wo stammt dieses Zitat wohl her? Aus dem Zweistromland, dem Vorderen Orient, aus Afrika oder gar aus Europa? Als Leser heutzutage in Westeuropa lehnt man sich eher kopfschüttelnd in seinen bequemen Sessel zurück und denkt vielleicht: Diese Fundamentalisten können einfach nicht genug bekommen. Die ewig Gestrigen. Weltenbrände gab es – da hortet das Gedächtnis fleißig Horrorbilder – schon immer. Nur waren sie in den letzten Jahrzehnten weit genug weg von Europa (die nahen Einschläge unlängst zählen da lediglich als Ausnahme), Frieden wurde zu einer angenehmen Gewohnheit. Dafür widmet man sich nun anderen Ängsten mit genauso viel Hingabe. „Alle Sätze,die mit ‚Das ist mein gutes Recht…‘ beginnen, kann man meist mit einem beherzten ’nein, ist es nicht‘ beenden. Es gibt weder das Recht, unversehrt sein Leben zu beenden, noch von Gemeinheiten verschont zu bleiben.“ (Sybille Berg). Aber lassen wir die Katze aus dem Sack. Das Zitat vom Anfang war weder von einem IS-Kämpfer, noch von einem Taliban, es stammt vielmehr von einem jungen Deutschen, der von der Westfront an seine Eltern schreibt. Aber schon 1915 wird er ernüchtert fragen:
„Was haben wir eigentlich alle verbrochen, dass wir hier schlimmer als Tiere
herumgehetzt werden, frieren, verlausen, mit zerlumptem Zeug laufen und
zum Schluss umgebracht werden wie Ungeziefer! Warum machen sie nicht
endlich Frieden?“
Was wir nicht fühlen, vergessen wir. Nur da, wo sich die Phantasie und die Wirklichkeit überschneiden, sind wir gänzlich im Jetzt. Lebendig, wirklich, wahr. In diesen Tagen kann man im Bonner Kunstmuseum farbenprächtige Bilder von Macke und Marc bestaunen. Beide starben ebenfalls in diesen Schlachtungen im Westen Europas. Die Phantasie bebildert uns gerne ihr Atelier, ihre Schaffenskraft; die Schatten der gewaltsamen Tode wirken da eher wie unliebsame Störenfriede. Hundert Jahre ist das nun schon her, die Medien verschonen die Zeitgenossen nicht auf dem Erinnerungskarussel, aber die Karawane ist bereits auf dem Weg zu neuen Ufern. Neue Jahrestage sind zu würdigen, neue starke Bilder erneut heraufzubeschwören. Unter den meterdicken Schichten zerbröselnder Geschichten der Vergangenheit lässt sich dennoch auch Hoffnungsvolles freilegen. Dazu sollten allerdings so probate Sätze wie „Wo gehobelt wird, da gibt es auch Späne“ oder „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“ nicht länger als praktische Entschuldigungen herhalten dürfen. So unterliegen wir nämlich nicht nur in der Phantasie dem Wiederholungszwang, weil es ja natürlich scheint, sondern auch in der banalen Wirklichkeit.
Blättern wir noch ein Jahrhundert weiter zurück. 1814. Nein, nicht von Waterloo soll da die Rede sein und den vielen toten jungen Männern – als habe man damals dort so ein kleines Präludium inszeniert für den späteren großen Totentanz an gleicher Stelle – sondern von der sogenannten Neuen Welt. Hier lieferten sich die Engländer und die Amerikaner Schlachthausarbeiten, und was dabei bald vergessen war und heute erst recht nicht mehr im sogenannten main-stream erinnert wird, ist die Tragödie, die den Indianern dabei in den Schoß fiel: Als praktische Verbündete oder als die „Wilden“ verschwinden diese ehemals selbstständigen Völker nach diesem Krieg um Vorherrschaft in der Neuen Welt mit „Gottes Hilfe“ aus der lebendigen Wirklichkeit und haben sich in Zukunft nur noch in den Erzählungen der Heldengeschichte der gottesfürchtigen Siedler und neuen Herren aufzuhalten. Sonst nirgends. So schleppen die Europäer eine wüste Spur von gnadenlosem Schlachten hinter sich her. Angekommen in der Gegenwart schrecken ihre Nachfahren auch nicht vor Folter zurück, um ihre eigene Sicherheit zu sichern. Dass sie dabei ihre eigenen Grundsätze verleugnen müssen, ist dann wohl wieder dem Hobel-Späne-Slogan gezollt. Oder: Ausnahmen bestätigen die Regel…
Der neue Literaturnobelpreisträger Modiano wäre demgegenüber ein echter Hoffnungsschimmer, wenn er sagt:
„1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben.“