18 Jan

Europa – Mythos # 25

Hält eine Göttin ihre Hand über die beiden Frauen?

Sie liebt diesen Ausblick. Chandaraissa lächelt genüsslich. Sie atmet tief ein. Wenn sie hier vor ihrer hohen Höhle sitzt, das endlose Meer vor Augen und darüber ein noch endloserer Himmel, dann weiß sie sich eins mit allem.

Das Bild der fremden Frau in ihren Träumen wird immer deutlicher. Sie glaubt so gar, ihre Stimme hören zu können. Und wenn sie aus solchen Träumen erwacht – manchmal sind es auch nur Tagträume – dann gleicht das Gefühl, das sie durchströmt genau dem, das sie hier am Meer empfindet. Alles spricht mit allem, keiner geht verloren. Die Bilder, die die Augen herein lassen, bebildern ihre Träume und ihre Träume liefern ihr die Bilder für ihr Denken und Verstehen. Eine unendliche Weite, Tiefe, Größe von allem mit allem. Und sie selbst inmitten davon.

Beseelt von solchen Bildern und Gedanken schließt sie langsam die Augen. Was für eine Fülle!

Leise läuft Europa durch die kühlen Gänge des Palastes. Archaikos ist mit seinen Ratgebern auf die Jagd gegangen. Niemand begegnet ihr. Sie hatte gut zugehört. Die beiden Köchinnen hatten sich lachend Geschichten erzählt, Europa hatte sie belauscht. Von der Priesterin war die Rede gewesen. Von ihrem Tempel am Meer hatten sie gesprochen, von ihren Geschichten, die sie als Gesang weitergibt. Mit einer Stimme, die die Herzen rührt, Freudentränen fließen lässt.

Da will sie nun hin. Sie braucht eine Fürsprecherin, eine Vertraute. Denn die Männer, die Archaikos umstehen, lassen nicht ab, sie schlecht zu machen. Als wäre sie ein böser Geist. Noch ist Archaikos berauscht von ihrem Duft, ihrer Nähe, ihrer Lust. Noch. Aber sie weiß, wie schnell sich das ändern kann.

Atemlos steht sie am Strand. Der Palast war wir ausgestorben gewesen. Die Gassen auch. Alle scheinen auf dem Markt zu sein. Wo wohl die beiden Kinder jetzt stecken mögen? Europa schaut sich um. Zu ihrer Rechten ragt steil eine zerklüftete Felswand ins Meer. Und dann sieht sie die Priesterin. Jedenfalls meint sie, dass sie das sein könnte. Sie sitzt mit überschlagenen Beinen vor dem Eingang einer hohen Felsöffnung und rührt sich nicht. Ob sie sie schon gesehen hat? Aber wo ist ihr Tempel? Vielleicht ist es ja gar nicht die Priesterin.

Europa geht langsam in Richtung Felsöffnung. Ein schmaler, steiniger Pfad führt zu der erhöhten Stelle. Jetzt kann sie auch sehen, dass die Frau die Augen geschlossen hat. Schließlich bleibt Europa stehen. Was soll sie sagen? Wie die Priesterin ansprechen? Ihr Gefühl sagt ihr, dass sie es ist.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Chandaraissa hat natürlich gehört, dass da jemand kam. Als sie jetzt die Stimme vernimmt, durchfährt sie ein Freudenblitz. Das ist die Stimme aus meinen Träumen. So sagt sie, ohne die Augen zu öffnen:

„Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich habe dich an deiner Stimme erkannt.“

Und nach einer kleinen Pause:

„Setz dich zu mir. Mein Herz ist voller Freude.“

Europa ist sprachlos. Vorsichtig geht sie zu Boden. Betrachtet dieses fremde, wunderschöne Gesicht. Dann schließt auch sie die Augen. Leise beginnen ihre Herzen miteinander zu sprechen. Die Göttin verbindet die beiden Frauen mit sprachlosem Verstehen, warmer Zuneigung und einem großen Auftrag: Gebt eure Lebensfreude voller Jubel weiter, genießt eure vibrierenden Körper und macht so Frauen wie Männer zu liebenden Menschen, voller Lust und Leidenschaft, die nie genug davon bekommen können, ein Leben lang. Und es weiter geben an ihre Kinder und Kindeskinder. Die beiden Frauen meinen eine Botschaft zu vernehmen, sie öffnen die Augen und staunen. Hatte einer von beiden gerade gesprochen? Aber wer? Sie wissen es nicht. Aber sie sind sich ganz sicher, die Botschaft gehört zu haben.

„Bist Du des Archaikos‘ neue Frau, bist du Europa?“

fragt Chandraissa mit ihrer weichen, tiefen Stimme. Europa nickt. Die Stimme lässt sie fast in Tränen ausbrechen. Was für ein Ton? Da schmilzt jede Angst wie von selbst dahin.

„Aber wer bist du?“

mehr schafft Europa nicht zu fragen. Zu benommen, zu beseelt ist sie von dieser Frau und ihrer Stimme: „Ich bin Chandraissa, deine Freundin.“

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