21 Sep

Europa – Meditation # 411

Verkehrte Welt ( Teil II)

Diese Frohe Botschaft des 18. Jahrhunderts: „Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit…und habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ läuft inzwischen Amok. Vor lauter Egoismus sind die Reichen – allen voran die WASPs – zwar immer reicher geworden, aber die Armen abgefunden mit Drogen, Tempo und einem faden Materialismus, der zwar den Bewohnern der nördlichen Halbkugel auf Kosten der südlichen genügend T-Shirts und Turnschuhe bescherte, nicht aber zu einer wirklichen Mündigkeit. Denn wo zum Beispiel soll denn da Verstand zum Ausdruck kommen, wenn sich Tausende auf einem Schiff einsperren lassen und all inclusive ununterbrochen bespaßt werden müssen, um nicht zur Besinnung zu kommen? Oder wo hat sich denn da die Vernunft versteckt, wenn in den autofreien Innenstädte die Fußgänger als Label-Tütenträger massenhaft auftreten, mit abweisenden Mienen die Entgegenkommenden checken und mit dem selbstzufriedenen Gesicht nach Hause fahren wollen, dass sie sich gerade als gnadenlose Selbstverwirklicher geoutet haben?

Vollkommene Vereinsamung in den gemieteten „Vier Wänden“, vollkommene Sprachlosigkeit als Sahnehäubchen obendrauf.

Und die Kehrseite der Medaille?

Mitleidlos nicht nur dem Nächsten gegenüber – sei es der Penner in eben derselben Fußgängerzone, sei es der Flüchtling aus den ausgewrungenen Ländern der südlichen Halbkugel, seien es die übergewichtigen Jugendlichen in der U-Bahn, die in ihre kleinen Gerätchen starren – sondern geradezu gnadenlos eiskalt der Natur gegenüber, die ihnen überhaupt erst diese Haltung ermöglicht hat – in ihrem Überfluss, in ihrem Reichtum, in ihrer Vielfalt und in ihrer Klugheit, alles mit allem in Verbindung zu halten, zu kombinieren, zu variieren. Von großer Vernunft geprägt also.

Diese unvernünftige Konditionierung, die seit dem Zweiten Weltkrieg rapide dank des american way of life zugenommen hat, führt nun seine „Gewinner“ selber vor: In Naturkatastrophen, in vielen neuen Krankheitsbildern und in einer masochistischen Sturheit den notwendigen weltweiten Veränderungen gegenüber und in einer kalten Zuschauer-Mentalität den Gewalttaten der Kriege und Putsche gegenüber. Das Humanum, das einst die species homo sapiens (was für ein euphemistischer Begriff inzwischen!) ausmachte – als flüchtige Ausgeburt vernünftigen Nachdenkens – bleibt so nachhaltig auf der Strecke und wird zunehmend ersetzt durch eine unerbittliche Revier-Mentalität der „Stärkeren“.

16 Sep

Neue Geschichten – Rygraf, der verzauberte Zauberer # 3 Leseprobe

Wie der verzauberte Zauberer verzauberte Pferde sieht.

Fridolina, der gelb schimmernde Schmetterling und Mürlibü, das braun glänzende Eichhörnchen und Huschelflug, der stolze Falke, starren sprachlos den alten Mann an, der gerade durch seine grooooße Brille auf seiner langen Nase eine saftig grüne Wiese zu sehen glaubt, auf der, auf der, ja, auf der viele junge Pferde wild herum springen: Rappen, Schimmel, Schecken, Falben mit hellem Fell und dunklen Schweifen und Mähnen.

„Ja, aber, aber…“ stottert vor lauter Aufregung unser alter Zauberer, „ das, das gibt es doch gar nicht. Eine Herde Pferde direkt vor mir auf der Wiese. Da waren eben doch nur lauter Schafe – oder … oder nicht?“

Unsere drei Freunde, Fridolina, Mürlibü und Huschelflug biegen sich vor Lachen. Denn sie sehen überhaupt keine Wiese – weder mit Schafen noch mit einer Herde Pferde.

„Das träumst du nur, das träumst du nur!“ wispert Fridolina dem alten Mann ins Ohr.

„IIIH, was kitzelt mich denn da in meinem Ohr?“ Wild wedelt er mit seinen Händen um seinen Kopf herum. Und schon purzelt seine Brille von seiner Nase herunter.

„Huch, ach, wo ist sie denn, meine Brille, wie soll ich denn sonst die herrliche Pferdeherde sehen?“ schimpft Rygraf, der verzauberte Zauberer.

Gleichzeitig kommt von der Seite her – in weiter Kurve um die alte Eiche herum – die liebe Libelle Doppelflimmer angesaust und fliegt dem Zauberer vor seiner Nase herum.

„He, Alter, Falter, lass ja meine Freundin Fridolina in Ruh, sonst gibt es aber richtig Ärger, kann ich dir flüstern!“

Fridolina wird ganz rot. Denn sie mag die Libelle Doppelflimmer sehr.

„Och, lass mal, Doppelflimmer!“ surrt sie in die Luft, „der alte Zauberer sucht doch nur seine Brille.“

Da fangen unsere Freunde vergnügt erneut zu kichern an:

Hihii, chicici, puhusoud´w´soutasklösdfklö….

Das verwirrt den alten Mann aber sehr.

„Nun, nun…“ dabei tastet er die Wiese mit seinen Händen ab, „Ei, wo ist sie denn, meine Brille, ei, wo ist sie denn?“

Huschelflug mit seinen scharfen Augen hat sie natürlich längst entdeckt. Schnell hüpft er hin, schnappt sie sich mit seinem krummen, spitzen Schnabel und hebt ab.

„He, du da, he – gib mir sofort meine Brille wieder – he!“ ruft er laut und

aufgebracht hinter Huschelflug her. Auch Fridolina und Mürlibü finden das gar nicht nett und piepen gemeinsam dazwischen:

„Huschelflug, Huschelflug – sei so gut, sei so gut und bring die Brille her zu ihm!“

Na, denkt da der Falke: Was soll ich denn auch mit so einer ollen Brille und lässt sie einfach aus großer Höhe fallen.

„Nein, nein“ brüllt das der alte Zauberer, “Wenn sie zerbricht, bin ich ja wie blind – ohweh minneh!“

Auch unsere Freunde sind entsetzt.

Großes Geschrei und Durcheinander. Aber da haben sie unseren Falken Huschelflug ziemlich falsch eingeschätzt. Denn der jagt nun in blitzschnellem Sturzflug hinter der herabfallenden Brille her und schnappt sie sich erneut, bevor sie auf dem Boden aufschlagen kann.

„Puuh!“ stöhnt der alte Mann, dem die Schweißperlen auf der Stirn stehen. Unsere Freunde klatschen Beifall:

„Gut gemacht, Huschelflug, gut gemacht! Du bist ja der tollste Sturzflugsegler, den wir je gesehen haben!“

Huschelflug, der stolze Falke, klimpert mit seinen Augenlidern, tippelt hin und her und meint dann nur:

„Och, meine Lieben, das war doch nur eine meiner leichtesten Übungen, ihr solltet mal sehen, wenn ich aus dreihundert Meter Höhe eine kleine Maus sehe, dann…“

„Nein, nein, erzähl es lieber nicht!“ fleht da Mürlibü, denn sie weiß, was für ein gefährlicher und erfolgreicher Jäger der Falke ist.

„DA, da, jetzt seh ich es wieder ganz deutlich!“ jauchzt der alte Zauberer, der immer noch am Fuß der alten Eiche sitzt und jetzt wieder durch seine Brille schaut, „Da sind sie ja wieder, da! Eins, zwei, viele, viele!“

Unsere Freunde Fridolina, Mürlibü, Doppelflimmer und auch Huschelflug, können nur mit den Köpfchen schütteln.

„Hier, hier“, sagt Rygraf, der verzauberte Zauberer, „schaut doch selber, wenn ihr mir nicht glauben wollt!“ und stellt seine große Brille im Gras direkt vor unsere Freunde hin. Die hüpfen so schnell sie können gleich herbei und schauen durch die in der Abendsonne blinkenden Gläser der Brille des Zauberers.

„Booh, das glaub ich nicht!“ unsere Freunde plappern aufgeregt durcheinander, „Das glaub ich nicht, lauter Pferde, eine Pferdeherde. Schwarze, weiße, Schecken, Falben, booh, ist das schööööön!“

14 Sep

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 164

Schiffbruch an fremden Gestaden.

Alle Götter scheinen sich gegen Europa und ihr Schiff verschworen zu haben. Warum nur? Doch darüber nachzudenken, bleibt den seekranken und um ihr Leben kämpfenden Menschen an Bord nicht die Zeit. Brecher schütten immer wieder alles unter sich zu, und wenn sie wieder Atem holen können, jagen Todesangst noch einmal die Bilder des eigenen Lebens durch ihre Köpfe.

Chaturo hat längst die Kontrolle über die Boreia verloren, seine Schreie an die Mannschaft werden von Gischtwolken verschluckt. Verzweifelt suchen Europa, ihre beiden Söhne, Athanama Halt zu finden, aber umsonst. Das Schiff, das längst zum Spielball der Wellenberge geworden ist, scheint nur noch wie ein welkes Blatt auf dem schäumenden Wasser darauf zu warten, wehrlos in der Tiefe zu versinken, zu verschwinden, für immer.

Als wäre es bereits Nacht und sie stürzten gerade kopfüber in den Hades, so ist ihnen zumute.

Da gibt es einen mächtigen Schlag von unten gegen das Schiff. Wie kleine triefende Sandsäcke werden die Menschen gegen das Vorschiff geschleudert. Planken bersten. Angstschreie. Die Boreia bäumt sich noch einmal auf, um dann völlig auseinander zu brechen und zu sinken. Europa kann es nicht fassen: Soll ich so enden, ist das, was meine große Göttin für mich bestimmt hat? Verzweifelt versucht sie ihr Söhne in diesem Wasser und zersplitternden Holzgewirr zu erblicken. Aber da trifft sie schon die nächste Welle. Wütend stürmt sie über sie hin.

„Sadamanthys, Parsephon! Wo seid ihr?“ Sie schreit. Salzwasser füllt ihren Mund, ihre Nase, ihre Ohren. Sie bekommt ein Seil zu fassen. Doch als jetzt die Brecher ablaufen, steht das Schiff – oder das, was davon noch zu sehen ist – fest an der gleichen Stelle. Wir müssen an einem Riff festhängen, geht es dem Kapitän durch den Kopf. Dann muss auch Land in der Nähe sein. Aber wie das? Sie können doch noch gar nicht an der Küste von Sidon sein. Aber wo hat sie denn in den letzten Stunden der Sturm hingetrieben?

Oben im Olymp kichert Zeus zufrieden vor sich hin.

„Das hast du gut gemacht, Poseidon!“ plappert er leise vor sich hin und nippt an seinem Becher mit Nektar und Ambrosia. Nun ist er sich ganz sicher, dass diese stolze Prinzessin aus Phönizien, die er als weißer Stier nach Kreta entführt hatte, um sie dort in seiner Höhle…Nicht mehr dran denken, befiehlt er sich, nicht mehr dran denken. Jetzt hat sie ihre Strafe.