13 Sep

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 77 – Leseprobe

Endlich dient die Sprache den Gefühlen und nicht mehr dem Verstand.

Die Welt hält den Atem an, selbst die Nachtvögel halten den Schnabel. Am Himmel stürzen die Perseiden – wie Goldstaubregen – über ihnen vorbei, als wären die blinkenden Schwingungen nicht nur zwischen ihnen außer Rand und Band geraten, sondern überall feiernd und wild tanzend unterwegs.

„Mein Vater hält nicht viel von mir, schon lange.“

Lordum kann es gar nicht fassen, dass er das gerade gesagt hat. Lukimeeló streichelt seine Hand.

„Und meine Mutter, die solltest du mal hören, was die alles von mir erwartet. Besonders was das Heiraten betrifft“, fügt sie hinzu.

Die helle Mondnacht macht es ihnen leicht, das Mienenspiel ihrer Gesichter deutlich zu erkennen. Ein Lachen, ein Staunen, reine Lebensfreude. In demselben Augenblick wird ihnen auch klar – als flögen sie auf einem hell strahlenden Kometen durchs All – dass sie keine Fesseln mehr in sich spüren. Fesseln, die ihnen bisher verboten hatten, einfach das zu sagen, was ihre Herzen sagen wollen. Was geschieht da gerade mit ihnen? Die Leichtigkeit, mit der ihre Worte jetzt über ihre Lippen hüpfen, macht sie fast schwindlig. So vieles will auf einmal aus ihnen herauspurzeln, wie ein Wortwasserfall, lange aufgestaut.

„Im Beichtstuhl“, beginnt Lordum erneut, doch Lukimeeló bekommt einen Lachanfall.

„Was ist denn daran so lustig? Ich habe beichten schon immer scheußlich gefunden.“

Schließlich beruhigt sich Lukimeeló wieder und sagt nur:

„Ich wollte dir auch gerade eine Beichtstuhlgeschichte erzählen. Ist das nicht komisch?“

„Wirklich? Ist das wirklich wahr? Bis heute war es für mich überhaupt unvorstellbar, jemandem Beichtgeschichten von mir zu erzählen. Aber jetzt, pass auf!“

Lordum reckt sich und stützt sich mit beiden Armen und Händen auf der weichen Wiese ab. Er macht ein übertrieben ernstes Gesicht, verstellt seine Stimme und legt dann los – in seinen Augenwinkeln bemerkt er, dass auch die anderen Paare scheinbar in angeregte Gespräche vertieft sind:

„Wir sind alle Sünder“ (Lukimeeló prustet los, kichert) „aber wenn wir offen vor unserem Erlöser bekennen, wo wir schwach geworden sind, dann wird er uns gerne verzeihen. Öffne also dein Herz und lege ihm zu Füßen, was du gesündigt hast.“

Ich räuspere mich umständlich, seufze schwer, nicke leicht und beginne dann stotternd:

„Vater, ich habe… unkeusche …Blicke …äh…äh…ich“

„Sprich es nur deutlich aus, dann wirst du dich schon besser fühlen, mein Sohn!“ imitiert Lordum erneut die weinerlich-gierige Stimme des Beichtvaters. Gleichzeitig muss er Obacht geben, dass er nicht in das Gekichere von Lukimeeló einstimmt.

„Ich, ich…äh…ich habe auf ihren Schoß gestarrt, als sie von der Kommunion zurück zu ihrem Platz schritt.“

„Nun, war da nicht noch mehr, mein Sohn?“

„Mehr? Ja, ja…ääh…also…ich habe mir sehr sündige Dinge dabei vorgestellt.“

„Nenne sie mir alle, ohne Ausnahme. Ich höre dir zu und werde dir auch hinterher die Absolution geben. Welche Dinge waren das denn?“

„Mein Vater, ich kann es nicht sagen, ich kann es nicht“, stotterte ich. Dabei wollte ich ihn doch nur noch neugieriger machen, diesen geilen Sack.“

„Weiter, weiter, Lordum, bitte, ich halte es kaum noch aus!“ fleht ihn Lukimeeló an, „bitte, bitte!“ und ihre dunkle Stimme hüllt ihn dabei wohlig ein.

„ich, ich…äh…ich habe mit meinen Händen ihre Brüste berührt!“

Und du wirst es nicht glauben, mein Beichtvater fing an zu schnaufen, sog die Luft laut durch die Nase ein, plusterte die Backen auf, seine gefalteten Hände zittern vor seiner Soutane. Er musste mehrmals schlucken, bevor er flüsternd sagte:

„Eine schlimme Sünde, fürwahr, aber war da nicht noch mehr? Bekenne es offen vor unserem Erlöser, jetzt und verschweige nichts, nichts!“

Da können sie beiden nicht mehr an sich halten und lachen los und ersticken das Lachen in einem langen und leidenschaftlichen Kuss. Ohne an die anderen Paare auch nur noch zu denken, geben sie sich einander voller Wonne hin.

„Mehr, mehr!“ kommt es über ihre Lippen, „mehr!“

Alles scheint auf einmal so leicht, so völlig ohne Angst mit ihnen zu geschehen.

Später, sie liegen eng umschlungen auf der kühlenden Wiese, spricht Lukimeeló leise in sein Ohr:

„Stell dir vor, wir würden das unserem Beichtvater erzählen. Herzstillstand wäre bestimmt das Mindeste, was dem armen Mann passieren würde. Höllenqualen gratis dazu.“

Lordum muss heftig kichern, als er sich das vorzustellen versucht. Beide wissen gar nicht, wohin mit ihren Glücksgefühlen, so federleicht und selig scheint ihnen leben und lieben mittlerweile.

Die Geschichten ihrer Eltern, die sie sich eigentlich erzählen wollten, sind längst in wässriger Bedeutungslosigkeit versickert. Sie haben keine Macht mehr über sie. Sie fühlen sich erstmals völlig frei und selbstbestimmt. Und dass sie das nicht träumen, sagt ihnen der warme Atem, der zwischen den beiden nackten Körpern hin und her weht.

11 Sep

Europa – Meditation # 410

Verkehrte Welt. (Teil I)

Enttäuschung heißt die Losung der Stunde:

Die Wachstumsbotschaft enttäuscht auf der ganzen Linie.

Wenn man alles hat – oder meint zu haben – was soll man dann noch machen? Um die Welt schippern? Den Bilderberg in der cloud um neue Bilder-Abfallhalden bereichern? Schnäppchenjäger als neuer Beruf?

Zu Hause dann, wenn man den Kühlschrank öffnet, das altbekannte Bild.

Eine schleichende Müdigkeit greift nach und nach um sich.

Die Individualitätsbotschaft enttäuscht ebenfalls umfassend.

Ob das Tatoo oder der Haarschnitt, ob das Reiseziel oder das neue Vehikel, ob Essgewohnheiten oder Singlebörse – immer schon kommen auch dem misstrauischen Nachbarn ungute Stör-Gedanken ins Hirn: Sind wir nicht alle nichts als Lemminge, die einfach nur mitmachen, was uns pausenlos eingeflüstert wird – analog wie digital?

Die Superlativ-Spiralenbotschaft enttäuscht nachhaltig jetzt auch noch.

Ob es nun die Notierungen an der Börse oder die Absatzzahlen bei den Neuzulassungen sind, die Höhepunkte scheinen Geschichte zu sein. Boom war gestern, heute ist Katzenjammer über die katastrophalen Folgen weltweit.

Da würde man doch am liebsten zum Eremiten mutieren – natürlich auf hohen Niveau – am besten in einer vollklimatisierten Höhle mit wlan-Anschluss und Essens-Bring-Dienst; vegetarisch bis vegan, versteht sich. Und natürlich alles vom Staat sichergestellt.

Und das nationale Wir-Gefühl als Botschaft einfach unbemerkt abhanden gekommen. Auch das eine einzige Enttäuschung.

Früher in gepflegtem Latein hieß es nur kurz und knackig: panem et circenses. Im Hippodrom in Rom oder in Konstantinopel gab es für hunderttausend Zuschauer Brot, Münzen, Pferderennen und Wettbüros. Die kleine Schicht der Besitzenden hielt sich vornehm im Hintergrund. Der Rest taumelte vom Hunger getrieben weiter als lauter Habenichtse zu den Spielen. Hat sich seitdem irgendetwas geändert – außer den Hochglanzbezeichnungen der Gegenwart in Sachen Konsumgütern? Wenig. Die Versprechungen der Neuzeit, mit Hilfe des Individualismus das Glück aller anstreben zu können, blieben Wechsel auf eine Zukunft, die nicht nur zwei Weltkriege mitproduzierten, sondern auch die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander driften ließen. Vom Raubbau am blauen Planeten ganz zu schweigen.

31 Aug

Europa – Meditation # 409

Leistungssport: Ein Spiegel von was? (Teil II)

Wie in Teil I dargestellt haben Verwöhnung, Überhütung und Berieselung unserer Kleinsten mit dazu beigetragen, dass auf lange Sicht latent im Sport Leistungswille, Ehrgeiz, Ausdauer und Routinen inzwischen Fremdwörter im Sprachschatz der Großen größtenteils zu sein scheinen.

Und werfen wir einen kritischen Blick vom Leistungssport hinüber zur Leistungsgesellschaft, so bietet sich dort ein erstaunlich ähnliches Bild. Wenn man einmal die internationalen Faktoren – wie Weltmarktpreise, Monopole, Subventionen – draußen vorlässt und sich mit den nationalen beschäftigt, so schreiben sich minimalistischer Einsatz bei möglichst maximalen Lohn fort. Es fehlen überall Fachkräfte, lautet der Refrain der Besserwisser. Aber warum fehlen sie? Wem wird der schwarze Peter zugeschoben? Der Jugend: Sie sei nicht mehr bereit, die Lehrzeit durchzuhalten – nach dem Schulabschluss, dem äußerst mäßigen, melde man sich lieber arbeitslos oder probiere noch ein paar andere Weiterbildungsangebote aus, die der Staat finanziert. Und bei schrumpfenden Jahrgängen müssten man eigentlich ausländische Fachkräfte anwerben. Aber da sind die Hürden für Interessenten nach wie vor viel zu hoch. Exportweltmeister? Nicht nur bei der Weiterentwicklung von Elektromotoren, beziehungsweise effizienteren Batteriesystemen hinken wir weit hinterher. Dass die Automobilindustrie unter der schützenden Hand einer wortkargen Frau so lange vor sich hin schlafen durfte – Gewinne, Gewinne, Gewinne – erscheint rückblickend einfach nur dumm dreist. Die Folgen sind, dass uns unser Exportweltmeister-Abo beim Lamentieren (schuld sind natürlich die Grünen, wer sonst!) unter der Hand abhanden gekommen ist.

Die Kräfte, die jede Generation in sich trägt, versiegen unerkannt und ungenutzt in den Sofas und Liegen der müden Zeitgenossen, weil die digitalen Angebote wunderbar ablenken (wie groß ist die Verweildauer vor den Pixelscheibchen nun?) von den Mühen des Alltags, den doch bitte die anderen bearbeiten sollen.

Aber selbst im Dienstleistungssektor haben sich viele verabschiedet – während und nach der Pandemie. Und auf den Applaus, den man einst den helfenden Händen in den Krankenhäusern und Altenheimen spendete, folgten zwar Absichtserklärungen, aber keine substantiellen Verbesserungen. Allein die Bauwirtschaft könnte ordentlich profitieren, wenn endlich angemessene und ausreichende Bauten für Schulen und Kitas in Auftrag gegeben würden.