09 Mai

AbB – Autobiographische Blätter – Neue Serie – Blatt # 6 – Leseprobe

Einsamkeit, Stille, sinnloser Wörtertsunami.

Je öfter der alte Floh darüber nachdenkt, desto schneller kommen die Bilder und Wörter ungefragt zu Hilfe, die lustvoll eine Lanze nach der anderen für die Zwillinge Einsamkeit und Stille brechen.

Hatte er nicht als kleiner Floh spontan das Stummsein als gut und richtig empfunden? Hatte er nicht gern geschwiegen? Und hatte er es nicht stets versucht, die Wortgirlanden der großen Leute als das anzusehen, was sie sind: Schall und Rauch bei ständigem Abnicken der Luftschlösser?

Vielleicht ist die Brücke die Musik – wortlos – wie schon der junge Herder meinte, dass am Anfang der Gesang stand und nicht das Wort – wie bei den Vögeln.

All die Wortzertrümmerer – Sterne und Nietzsche zum Beispiel – misstrauen dem Wort, beschimpfen die damit herbeigezauberten Sinnangebote und stoßen sie lustvoll in den Orkus der Besinnlichkeit, wo die Sinne fröhlich tagen, lachen und Verwirrspiele sich ausdenken, damit die Denker wieder Arbeit haben.

Dass dabei neue Einbildungen geboren werden, ist nur zu verständlich, denn in der unüberschaubaren Vielfalt der Natur suchen wir Erdlinge stets eine Antwort, die verständlich und anschaulich erscheinen soll. Nicht einmal im Schlaf kehrt jene Stille ein, die das All farbenprächtig inszeniert, weil selbst in Träumen lärmende Wortkaskaden den erschöpften Sucher zu neuen Deutungen verführen. Am nächsten Morgen vielleicht schon wieder vergessen oder aufgebauscht zu unerhörten Neuigkeiten.

Gehen dann die Zwillinge Einsamkeit und Stille Hand in Hand dem weiter Suchenden voran, lenken ihn vielleicht die Musik der Vogelstimmen oder das Zirpen der Zikaden oder das Rauschen der Blätter im Wörterwald von allzu traurigen Gedanken ab.

Manchmal lässt er auch den Thespiskarren ausladen, bestaunt die schön verkleideten Figuren auf der kleinen Bühne, wenn sie zu leisen Lautenklängen zauberhafte Geschichten vorführen. Welche Welt ist denn nun welche? Hinterher, wenn er summend sich selbst die theatralischen Bilder weiter erzählt, schwebt er grinsend den Zwillingen einfach davon. Zumindest für Augenblicke.

Doch der schönste Augenblick ist und bleibt die wärmende Nähe des begehrten Erdlings, mit dem zu verschmelzen reinste Wonne ist. Nur da ist wortlos Wahrheit, Wirklichkeit und sinnlichste Begegnung, als wäre Welt demgegenüber nur Staffage, Kulisse, Kartenhaus.

06 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 161

Drei fremden Gestalten mischen sich ein.

„Wir dürfen nicht länger zaudern!“ grummelt Gromdas vor sich hin, als sich die Ratsherren nach Europas Rede fluchtartig in Richtung Ratssaal begeben, um die nächsten Schritte zu besprechen.

„Bin völlig deiner Meinung“, kommentiert Zygmontis leise den Aufruf seines Ratskollegen.

Pass doch auf, du Trottel!“ faucht da Berberdus einen älteren Herrn an, der ihn fast zum Stolpern gebracht hätte.

„Verzeih, Berberdus, aber ich möchte mit dir reden!“

Berberdus schaut verdutzt den fremden, alten Mann von der Seite an. Sollte ich den kennen? Ein ungutes Gefühl geht ihm dabei durch Mark und Bein. Wer weiß, wo für der aufdringliche Kerl nützlich sein kann, geht es ihm kurz durch den Kopf, wer weiß.

„Gut, gut – was kann ich denn für dich tun?“ geht er breit lächelnd auf Zeus ein. Die Ratsherren verschwinden schon im Ratssaal, Berberdus aber bleibt stehen und schaut erwartungsvoll auf den fremden Alten.

„Die beiden Frauen werden mächtiger und mächtiger. Das tut Kreta gar nicht gut – oder?“

Berberdus verschlägt es die Sprache. Genau dieser Gedanken war ihm selbst gerade durch den Kopf gegangen. Flüsternd kommen sie dem Eingang zum Ratssaal näher und näher. Der Fremde drängt ihn hinein und kommt einfach hinterher, bleibt hinter einer Säule stehen und hört zu, was Pallnemvus gerade sagt, während auch Berberdus seinem angestammten Sitzplatz zustrebt. Er ist völlig verwirrt. Wer ist dieser Mann? Warum habe ich ihm den Eintritt nicht verwehrt? Was hat er vor? Ist es vielleicht ein Attentäter?

„Werte Ratsherren“, beginnt gerade Collchades die Runde zu eröffnen, „jeder Tag, den wir tatenlos verstreichen lassen, schwächt unsere Position, das wisst ihr so gut wie ich!“

Er macht eine längere Pause, schaut dabei mit finsterem Blick in die Runde, und fährt dann fort:

„Wir hätten gar nicht erst zulassen dürfen, dass sie mit der Fackel den Katafalk entflammt, niemals. Für die Kreter ist sie jetzt die Herrin über die Insel!“

Zeus, der hinter der Säule alles gut mithören kann, fast sich ein Herz und tritt aus seiner Deckung hervor:

„Und sie wird es von Tag zu Tag noch mehr werden!“

Die alten Männer drehen sich erschrocken um. Wer ist das? Wer hat ihn herein gelassen? Was will der? Für Augenblicke sind die Ratsherren völlig sprachlos, dann ergreift Berberdus das Wort:

„Fremde haben keine Zutritt zu Sitzungen des Rates. Und wer bist du, dass du so sprichst?“

Die Ratskollegen nicken, sie sind nun erst recht neugierig, wer da so mutig ihre eigenen Gedanken laut ausspricht.

Zeus ist klar, dass jetzt seine Pläne doch noch zum Zuge kommen könnten, wenn er diese Männer für sich gewinnen sollte.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin neulich mit dem Schiff des Chaturo aus Sidon gekommen, hatte dort das Orakel im Tempel des Baal befragt. Der Tod des Minos stünde vor der Tür, so ließ es sich hören, und danach gäbe es Streit, den eine Frau gewinnen würde, wenn die Männer es zulassen.“

Es wird leichenstill im Saal. Hektisches Geflüster, hektische Gesten, während Zeus weiter nach vorne kommt. Alle starren ihn an. Neben einem Grausen wächst gleichzeitig ein wütender Wille in ihnen, als sie die Worte des Fremden auf sich wirken lassen.

„Und gab das Orakel einen Hinweis, wie wir das verhindern könnten?“ fragt Zygmontis und gibt so Zeus das nächste Stichwort zu seinem Plan (Insgeheim denkt er noch – hoffentlich sind meine beiden Brüder bei Europa und der Hohepriesterin genauso erfolgreich wie ich):

„Ein Bote aus Sidon, wo Europa ja herkommt, sollte ihr einreden, dass sie unbedingt das Orakel des Baal befragen muss. Und auf der Reise dorthin könnte es ja ein unvorhersehbares Unglück geben – Sturm, Schiffbruch, Untergang.“

Kreidebleich die Ratsherren. Stille, Grabesstille. Und bevor die Ratsherren weiter in ihn dringen, wendet sich Zeus wortlos zum Ausgang und lässt die alten Männer ratlos zurück. Ratlos? Nein. Sie wissen zwar nicht, wer dieser Fremde aus Sidon eigentlich ist, aber sie wissen nun, wie sie Gutes für Kreta tun können. Wie sie diese anmaßenden Frauen aus dem Palast und dem Tempel der großen Göttin vertreiben könnten – ohne dass sie als die Verursacher dastehen werden.

Später sieht man drei alte Männer im Hafen auf den zusammengerollten Netzen der Fischer sitzen. Sie scheinen gute Laune zu haben, sie lachen viel, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, sie haben sich anscheinend viel zu erzählen, denn auch Poseidon und Hades waren bei Europa und Chandaraissa, der Hohepriesterin, wichtigtuerisch zu Gange gewesen.

06 Mai

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 180 – Leseprobe

Somythalls Tagtraum im Land der Schmerzen.

Sie hat Durst, Hunger, Schmerzen, Angst. Auf feuchtem Stroh liegt sie im Keller des Stadtpräfekten von Augusta Treverorum. Sie fleht zu ihrer Göttin: Hilf mir, bitte! Ein unwirkliche Stille umgibt sie. Als wären die Geister, die einst dieses dritte Rom vibrieren ließen, müde schlafen gegangen, als wären die Hunnen nie hier gewesen, als wären die stolzen Senatorenfamilien alle ausgestorben, als wäre die lange Reise, die sie mit Rochwyn von YRRLANTH bis an den Rhein gemacht hat, nur ein schwerer, langer Traum gewesen. Sie bricht in Tränen aus, als sie den Namen Rochwyn im Erinnern aufruft. Und hilflos wird sie nun überspült von weiteren Namen und Menschen, die ihr begegnet sind: Ihre Großmutter, Voegrun, Julianus. Und was ist mit Sumila, ihrem kleinen Töchterchen? Was mit Pippa? Hier im dunklen Verlies überfällt sie ein übermächtiges Begehren nach Leben, Freude, Singen. Dann birst Zorn aus ihr heraus: Diese Franken! Sie brauchen jemanden, der als Täter taugt. Und sie als Fremde, als Frau eignet sich dazu bestens. Da ist niemand, der für sie Partei ergreifen wird. Da sind nur lauter verängstigte Männer, die gerne sehen wollen, wie eine Frau gequält wird. Möglichst arm an Kleidung, möglichst verzweifelt. Damit sie sich wenigstens für einen Augenblick stark fühlen können.

Ich werde ihnen keine Schwäche zeigen, nimmt sie sich vor. Wie ein Fieber geht es ihr durchs Blut: Meine Göttin macht mich stark, sie wird bei mir sein, sie wird mich ihnen entreißen. Ganz sicher. Und ich werde dazu lachen. So geht es ihr im Kopf hin und her, bevor der Schlaf ihr etwas Erholung gönnt.

Später wacht sie erschrocken auf. Da war jemand. Ihr Herz rast vor Angst und Wut. Träume ich das oder täusche ich mich? Sie weiß es nicht. Es ist zu dunkel, um irgendetwas in diesem Kellerloch erkennen zu können. Doch dann sieht sie die Augen, die auf sie zukommen, riecht den schlimmen Atem, spürt die gewalttätigen Hände.

Somythall will sich von ihren Ketten losreißen. Das schmerzt schlimm an den Gelenken. Ich muss schreien. Wie wild schreit sie los: „Pippa, Pippa komm, hilf mir!“ Sie schreit so laut, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geschrien hat. „Weg! Sei verflucht! Mistkerl!“

Ihre Stimme überschlägt sich, sie tritt um sich, rollt sich hin und her, schreit noch lauter. Ihre hohe Stimme hallt am Kellergewölbe wieder, kriecht durch die kleinen Öffnungen hinaus ins Freie, in die stille Nacht und fährt wie ein Blitz durch die Nachtruhe. Der Angreifer hat damit wohl nicht gerechnet. Aber er spürt, dass diese kreischenden Töne ihn verraten werden. Grunzend und fluchend lässt er von ihr ab, stolpert zum Ausgang, die Steintreppe hoch. Aber oben sind bereits die Wachen aufgewacht, haben Fackeln entzündet, stellen sich ihm in den Weg.

„Halt!“ rufen sie wild entschlossen; sie werfen ihn zu Boden.

Somythall atmet schwer unten im Verlies. Die Göttin hat ihr die Kraft gegeben, so zu schreien, wie sie noch nie geschrien hat. Als sie sich jetzt zitternd an die Kehle fasst und sich räuspert, wird ihr klar, dass sie kaum noch Stimme hat. Aber es hat sie gerettet. Sie hat sich selbst gerettet. So kommen ihr trotzige Tränen. Wartet nur, ihr werdet schon sehn!