30 Apr

Autobiographische Blätter (AbB) – nicht lesenswerte Randnotizen # 13

Wer wird vermisst werden?

Niemand. Wortreich legen die Zurückgebliebenen einen blumigen Wortteppich darüber – die Formeln passen immer und zu jedem – und wie in Trance malen sie sich Tag für Tag ein passendes Bild von jenen, deren Konturen sich schon dank Lethe in wohlmeinendem Nebel als wolkige Fragmente auflösen. Später klärt es angenehm wieder auf, Rituale und Gewohnheiten helfen selbstlos beim allmählichen Vergessen. Und was dann wieder und wieder vielleicht noch erinnert wird, hat ganz die Farben und Formen dessen, was der Erinnernde für wahr halten möchte. So entsteht ein schönes Bild, ganz im Geiste derer, die versichern, nichts von sich hinzufügen zu wollen, damit der Vermisste so wirklichkeitsgetreu wie möglich bei den Zurückgebliebenen verweilen kann. Gleiches gilt natürlich auch für die abfälligen Bemerkungen – de mortuis nihil nisi bene – , die unter der Hand ordentlich gespeichert werden und sich gar nicht folgenlos im Erinnerungsaltersheim breit machen und die Lichtblicke lustvoll verdüstern.

Als könnte man mit Worten der Vergänglichkeit ins Handwerk fuschen! Sogar auf dem alten Rhein gleiten schwer beladene Frachtschiffe mit Namen aus Bildungsgutrestbeständen flussauf- und abwärts: Acheron, Elysium, Armaggedon. In kleinen, Energie verschwendenden Spielzeugen kann jeder sofort nachschauen, was es mit diesen Namen auf sich hat, kann umgehend den Wissenden spielen, der aber schon im nächsten Augenblick das Gewusste wieder vergessen hat. Nicht aber die üble Nachrede. An der hält er fest, als wäre es das rettende Floß der Medusa, an das er sich dürstend klammert.

So finden im sogenannten Oberstübchen fortwährend synapsische Degenduelle zwischen den beiden unversöhnlichen Parteien „weiß ich doch“ und „du hast ja keine Ahnung“ statt, bis der Schlaf den Besserwisser scheinbar erlöst – wird doch in der REM-Phase fröhlich weiter verhöhnt, versöhnt und verdreht, je nach dem. Am Morgen selbstverständlich vergessen, beziehungsweise so erinnert, dass es in die Tagesform schön rein passt.

Wenn dann das Erinnerungsprogramm erneut auf Sendung geht, erscheinen auch gleich wieder die schwankenden Gestalten, winken oder laufen einfach wortlos davon. Wer war das denn? Keine Ahnung.

10 Apr

AbB – Neue Serie # 4 Wenn Wahrheit, dann in der Kunst

In der Kunst öffnet sich der Weg zur Wirklichkeit.

Manchmal.

Der Kunstgriff der banalen Wirklichkeitserklärung liegt in seiner monotonen Wiederholung. Der kleine Mensch ahmt die großen nach. Immer wieder. Schließlich signalisiert ihr Nicken: Du bist auf dem „richtigen Weg“. So wie die Vögel mit ihren Litaneien folgenschwere Resultate erzeugen, mausern sich die Erdlinge zu unbelehrbaren Besserwissern: Üben, üben, üben. Die Sinne tun dabei ihr Bestes. Lassen sich gerne betrügen. Ist so wohltuend.

Dem aber widersetzen sich die Künstler und Künstlerinnen.

Sie sorgen für Risse in der blendend bunten Wörterwand. Was aber wird dahinter sichtbar? Leere, unendliche Leere, Weite. Stille. Wie sollte man das denn in Worte fassen können, wie sollte man dem einen Sinn überstülpen können? Wie? Nur der Leierkastenmann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ein entfernter Verwandter der Künstler und Künstlerinnen. Er tut zwar so, als schaffe er Musik, aber es sind nur Lochkarten, die sich nach seinem Schwungrad fortbewegen. Auf der Stelle.

In der Musik aber wohnt die Wirklichkeit wie in einem Sommerhaus: da gefällt es ihr über die Maßen, da wohnen Freunde, da lässt sich gut tafeln und wunderbar schlafen. Und in den Träumen wird dann wahr, was so sowie so nie war. In Siebenmeilenstiefeln stapft das Leben durch das Licht und findet im übermütigen Singen Zuversicht.

„Täusche ich mich?“ fragt sie ihn.

„Natürlich“, antwortet er.

So irren die Erdlinge von Museum zu Museum und verlassen es, als hätten sie eine geheime Offenbarung erlebt.

04 Apr

AbB – Erneute Annäherungen – 2021 – Leseprobe – Ostern

Dekamerone? Denkste! Es sind nicht nur zehn Tage, es sind Wochen und Monate…da kann man glatt tausend Geschichten erzählen – so als Überbrückung…

Die neue Pest hat nun schon mehr als ein ganzes Jahr den Erdball fest im Griff. Wird sie an einer Stelle zurückgedrängt, meldet sie sich umso gewaltiger an anderer Stelle wieder zu Wort. Sisyphus lässt grüßen. Aber die Erdlinge müssen weiter an einen Sieg glauben. Zu sehr schreckt sie verfrühter Tod.

Jetzt – es ist Ostersonntag 2021 – zeigt sich der Feiertag in grauen und kalten Gewändern und lustloser Aufmachung. Landauf, landab kämpfen die Menschen gegen Windmühlen, so scheint es. Deshalb sind sie wütend und wenig einsichtig. Sie wollen ihr altes Leben zurück. Aber wie? Überall lauert der unsichtbare Flieger, sich durch die Nasenlöcher heimlich in die Lungen einzuschleichen und dort sein mörderisches Treiben zu veranstalten.

Ein Totentanz – lautlos und höchstens röchelnd später dann.

Millionen sind ihm bereits zum Opfer gefallen. Und jeden kann es treffen. Die Leugner genauso wie die Vorsichtigen. Und jeder bastelt weiter an seiner „wahren und frei erfundenen Geschichte“ wie ein leidenschaftlicher Rufer in der Wüste. Und die verwöhnten Zeitgenossen – Aufschieben Können ist keine Kunst mehr, höchstens noch ein Tun von Verlierern oder Heulsusen – spüren zwar, dass ihr Versumpfen im Digitalen Tag und Nacht weder Befriedigung noch Zuwachs bringt, aber sie halten jedes Besinnen auf die Neuentdeckung der Langsamkeit und Bescheidenheit für eine erbärmliche Schwäche, stattdessen beharren sie störrisch auf den eingeübten Mustern, als wären es Naturgesetze. Dabei könnte die Verlangsamung des Alltags eine Menge drängender Wahrheiten ans Licht spülen:

1. Die Erdlinge verbrauchen viel mehr als sie für ihr Auskommen nötig haben.

2. Die Erdlinge schikanieren gnadenlos die natürlichen Voraussetzungen ihres Überlebens.

3. Die Erdlinge verharren eingebildet in Mustern, die sie als unabänderlich für ihren Alltag ansehen.

4. Die Erdlinge spielen wie immer das Schwarze-Peter-Spiel: Schuld ist immer der andere, vor allem der Fremde oder das Fremde.

5. Die Erdlinge glauben zwar nicht mehr an die alten Götter, doch die neuen sind noch viel erbarmungsloser als die gestrigen.

6. Die Erdlinge könnten längst Hunger und Not auf ihrem Planeten abgestellt haben – sie müssten nur die KI dafür einsetzen.