14 Juni

AbB Erneute Annäherungen # 3

Wider die Natur schon so lange…

Ist es nicht eigenartig, wie hartnäckig wir Europäer an einer Denk- und Glaubensart festhalten, die nicht nur der eigenen ehemaligen religiösen und alltäglichen Welt widersprach, sondern auch dem natürlichen Gang von Werden und Vergehen zuwider läuft?

In der eigenen Biographie wird dem sich Erinnernden deutlich, wie sehr er von Anfang an misstrauisch dem schnellen Zugriff im logischen Denkgebäude für das Richtige und „offensichtlich“ Falsche gegenüber stand. Es blieb ihm lange ein ungeklärtes Geheimnis, wie sicher sich die Erwachsenen um ihn herum in ihrer Begriffswelt und den dazu gehörigen Schlussfolgerungen bewegten – immer mit einem Mienenspiel, das jedem Zweifler unmissverständlich zu verstehen gab: „Stell dich nicht so an, ist doch ganz einfach, sprich es mehrfach nach und schon stellt sich Verstehen ein, wie von selbst, logisch!“

Wie war es möglich, dass man den luftigen Bildern von einem unsichtbaren Jenseits mit einem unsichtbaren Gott (dreifach!) zu folgen bereit war, nachdem das Diesseits als Jammertal, Sündenpfuhl und Irrweg schlecht gemacht worden war?

Gut, schlecht entlohnte Legionäre, enttäuschte Veteranen und die vielen Sklaven und ihre Familien waren vielleicht bereit, an solch eine „späte Rettung und Belohnung im Jenseits“ glauben zu wollen, aber gleichzeitig die Natur als Bedrohung und Fremde zu verhöhnen, widerspricht doch dem Offensichtlichen.

Kleiner historischer Exkurs und Deutungsangebot:

Julian Apostata (360 -363) versuchte in kühnem Zugriff, dieses einseitige und misanthrope Glaubensangebot der jungen Christen und ihrer alten Bischöfe zurückzupfeifen: Es sollten wieder alle allen opfern dürfen, statt nur einem, der keine Götter neben sich duldete! Der Vielfalt in der Natur sollte wieder die Vielfalt der göttlichen Bilder entsprechen, mit der diese natürliche Vielfalt naturnah abgebildet schien. Aber das Glück war nicht auf seiner Seite. Er fiel bei einem Feldzug im Osten des römischen Reiches.

Aber schon zwei Jahre später – 365 – gab die Natur eine starke Antwort: die afrikanische Platte schob sich ruckartig weiter unter die eurasische und ein noch nie da gewesener Tsunami brauste im Mittelmeer von Westen nach Osten und riss tausende von Menschen in den Tod. Als wollte die Natur ein Zeichen geben: Ihr Erdlinge, ihr winzigen, verleugnet nicht eure Natur!

Zeit und Raum sind die Eckdaten von Werden und Vergehen. Darin hängt alles mit allem zusammen und nichts geht verloren, ja, im Gegenteil, es kehrt verwandelt zurück in neuer Form und überraschender Existenz. Das ist auch das Narrativ der östlichen Denker seit Jahrtausenden. Gerade erlebt auch der Osten so etwas wie eine Überfremdung mit einem Bildergebäude, das dem natürlichen und gewordenen Sein so sehr widerspricht. Es ist zwar nicht die Münchhausen-Geschichte vom „ewigen Leben nach dem Tod“ (Bethlehem lässt grüßen!), dafür aber die dialektische Täuschungs-Geschichte vom „materiellen Gewinn für alle beim gerechten Verteilen auf alle (Trier lässt grüßen!)“ – der Katholizismus hat seinen Ursprung im Osten; die Bilder sind fremde Bilder, die als die eigenen gebetsmühlenartig herbei gebetet werden. Der chinesische Sozialismus hat seinen Ursprung im Westen; die Bilder sind fremde Bilder, die als die eigenen gebetsmühlenartig herbei geredet werden. So taumelte man in die fremde Bilderwelt.

In beiden Irrgärten lässt sich gut träumen, andere abzuschlachten und eigene Leute mächtig werden zu lassen. Aber Frieden mit sich und der eigenen Natur lässt sich so nicht finden. Die Todesangst in der Pandemie lässt solche Irrgärten wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen. Kopfschüttelnd schaut die Natur diesem üblen Schauspiel zu. Dann zeigt sie den Probanden die gelb-rote Karte.

Und langsam, ganz langsam wagt sich der Erschrockene ans Überdenken altvertrauter Muster. So öffnet sich eine alte Tür nun wie neu. Vielleicht.

04 Nov.

Autobiographische Blätter – AbB – Neue Versuche # 53 (Leseprobe)

Ein Lyrik-Verächter bittet um Vergebung.

Wo die Musik am ehesten zu ihrem Recht kommt in der Sprache, da lässt sich leise sprechen, wie im Gedicht.

Wie die Musik schrankenlos in unser Herz sich durch kämpft, so bietet sich auch das Gedicht als freudvoller Gesang von Fühlen und Denken an. Es klingt so wunderbar rätselhaft, so geduldig fragend statt schnelle Antwort anzubieten.

Darum weisen die meisten es weit von sich: Was soll das undeutliche Sprechen, was das unordentliche Tönen? Warum so unnatürliche Formen wählen, warum so rhythmisch schreiten, raunen? Warum sich fremd gebärden? Klingt es doch wie künstliches Anders Sein Wollen. Wozu denn das? Da verdreht jeder klar Denkende die Augen: Die Sprache mit ihren klaren Strukturen werde hier mutwillig verhöhnt, bewusst sollte der Grammatik, dem Satzbau nicht gehorcht werden, nur um so zu gefallen. Wie dumm aber auch!

Könnte es nicht sein, dass dieser harsche Ton nicht eher auf den zurückfällt, der so tönt?

„Aber gefragt ist

Als ich dachte – damals oh dieses langsame

Aufmerken in dem geschlossenen Kreis! –

das zweite Haus einer Reihe von vollkommen gleichen

sei schon nicht mehr dasselbe (und gleiche schon gar

nicht), was hätte ich da

sonst denken können? Ich komme nicht drauf.“ (Elke Erb)

22.12.91

Wie denn auch? Hat nicht schon Lukrez sehr anschaulich gedichtet, dass nur eine zufällige Berührung eines Atoms irgendwo in den Sphären dazu führen kann, dass weitere unvorhersehbare Bewegungen die Folge sein werden, die wiederum zu einmaligen neuen Konstellationen führen, in denen dann wieder Berührungen zu Veränderungen Anlass geben…?

Und ist dann nicht die Lyrik – Elke Erb als eine der jüngsten Schöpferinnen in diesem unübersichtlichen Feld – ein viel schöneres Gefäß, das wir mit unseren zahllosen Bildern füllen können, als die strenge Form der Prosa, die wir immer auftreten lassen, als bilde sie unbestechlich das ab, was in den Protagonisten vor sich geht.

Was hat Kleist gegen diese scheinbare Unbestechlichkeit der Sprache nicht für Sturmläufe angetreten, immer wieder, immer wieder?

Es hat ihn schier um den Verstand gebracht.

Natura artis magistra et hominum.

06 Okt.

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 52 – Leseprobe

Hölderlin: Da ich ein Knabe war… (1794 – 1796)

…Oh all ihr treuen

Freundlichen Götter!

Dass ihr wüsstet,

Wie euch meine Seele geliebt!

Zwar damals rief ich noch nicht

Euch mit Nahmen, auch ihr

Nannten mich nie, wie die Menschen sich nennen,

Als kennten sie sich.

Doch kannt‘ ich euch besser,

Als ich je die Menschen gekannt,

Ich verstand die Stille des Aethers

Der Menschen Worte verstand ich nie.

Mich erzog der Wohllaut

Des säuselnden Hains

Und lieben lernt‘ ich

Unter den Blumen.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

„der Menschen Worte verstand ich nie“ – eine Erfahrung, die auch der kleine Floh machte. Jetzt, rückblickend und viel lesend und schreibend, wird ihm deutlich, wie ungefähr und willkürlich Worte, Sätze, Meinungen sind, die sich auf Gedächtnisbilder stützen, die selbst schon wieder überarbeitet und geschönt sein können – oder wohl auch schon sind…

Die Genauigkeit, mit der z. B. ein Richard Russo Gedankenspiele in „Diese alte Sehnsucht“ (The Old Cape Magic/ 2009) vorführt, als wären sie wahre Wortketten, die genau bebildern, was jemand denkt, fühlt, wünscht, zweifelt, träumt, lässt ihn nur leise schmunzeln. Vielleicht auch ein Grund, warum seine eigenen Texte (Historischer Roman I und II, blog-Texte, AbB-Texte) so oberflächlich wirken, als fehlte ihnen Tiefe, Genauigkeit, Strenge.

Ist es nicht viel eher so, dass er solcher Strenge einfach misstraut, das abzuliefern, was sie vorgeben liefern zu können: Abbilder von Außen- und Innenwelten? Allein, wenn er jetzt nur die Stichwortliste zu den zurückliegenden Sommertagen liest, weiß er genau, dass beim Auffüllen mit mehr Text mehr Fälschungen entstehen, als ihm lieb ist. So sehr sie ihm auch gefallen mögen. (Dabei erinnert er sich auch an die Unterrichtseinheiten zum Roman von Nicolas Born „Die Fälschung“ aus dem Jahr 1979 – intuitiv war ihm damals wohl schon klar, dass dieser Begriff ihm sehr sympathisch war, weil er die Suche nach Wahrheit mit einschließt)

Oder wenn er heute in der SZ ein Foto sieht mit dem Bild einer Frau, das er spontan für brauchbar hält, um ein verloren gegangenes Bild einer Freundin wieder zu finden. Selbstbetrug – das Alltagsgeschäft eines jeden von uns. Könnte das nicht den eifernden Umgang mit anderen Meinungen und Einschätzungen nachhaltig erleichtern, dem Recht Haben Wollen das Wasser abgraben?

Seine Antwort auf Hölderlins Gedicht am 6. Oktober 2020

Damals, ja damals schon…

Oh, ihr leisen Geister überall!

Wie wenig verstand ich einst

Euer stilles Werben, wiewohl ich

doch so zufrieden war mit euch

und euren liebenswerten Boten.

Der Jubelsang der Amsel im August,

Der süße Duft von Staub und Blüten

Der wohltuende Schatten unterm Kirschbaum

Da war jedes Wort zu viel, zu fremd,

Mein Fühlen zu offenbaren.

So verstand ich der Menschen Wort wohl nie.

Wozu auch. War ihnen doch nicht zu trauen.

Der kleine Mann spürte den hohlen Klang

Solcher Töne nur zu gut. Lasst mich allein!

Ich lernte still der Stille Botschaften zu lieben,

Genauso wie des Windes sanftes Säuseln

Und wogende Kornfelder trösteten

Das einsame Kind huldvoll und oft.

Kraft konnte da wachsen noch und noch.