27 Sep.

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 51 – Leseprobe

Fremdwörter in Kinderohren.

Im Bilderwald der „Westmächte“ hat man sich schnell verirrt. Überall lauern böse Dämonen. Tag und Nacht muss man wachsam sein. Jederzeit könnte man überfallen werden. Der Vater zieht bedeutsam die Augenbrauen hoch: Gefährlich, sehr gefährlich! Der „Kommunismus“ ist Teufelswerk. Die Mutter betet zu ihrer Göttin Maria: Nach so viel Leid – ihr jüngerer Bruder Johannes wird seit seinem letzten „Fronturlaub“ im Sommer 1944 vermisst – lass uns endlich Frieden finden! Es gibt keinen „Friedensvertrag“. Die Sieger haben sich zerstritten, nachdem sie die Beute unter sich geteilt hatten. Nun belauern sie sich misstrauisch und verdächtigen sich gegenseitig, den nächsten Schlag heimtückisch vorzubereiten. Über die Gräuel des Krieges schweigen wir lieber. Wir im „Westen“ haben ja Glück gehabt mit unseren Besatzern in „Trizonesien“. Wir dürfen ja sogar die eigenen „Schlimm-Nazis“ in eigenen „Spruchkammern“ anklagen und verurteilen – oder eben auch nicht. Die drüben sind schlimmer dran, da herrschen ja die Sowjets.

„Hiroshima“ – die Sieger im Westen siegen endlich auch im Fernen Osten.

„Korea-Krieg“ – zwar weit weg, aber brandgefährlich.

„Ost-Berlin“ – russische Panzer schlagen einen Aufstand nieder.

„Ungarn-Aufstand“ – zwar lobenswert, aber zum Scheitern verurteilt.

Dem Floh, der im Garten am Goldfischbassin mit seinem kleinen Segelboot spielt, fliegen solche Sätze bedeutungslos um die Ohren. Die Erwachsenen raunen bedeutsam im Hintergrund. Angst. Angst?

Wir müssen fest zu unseren neuen Freunden stehen, sie haben uns ja gerettet vor dem „Kommunismus“.

„Kommunismus“. „Eiserner Vorhang“. „Ulbricht“. Das sind die drohenden Wörter von drüben.

„Wirtschaftswunder“, „D-Mark“, „Ludwig Erhard“, „West-Bindung“, das sind die frohen Botschaften im eigenen Haus. Nichtssagend wie die anderen auch.

„Ost-West-Konflikt“, „Dritter Weltkrieg“. Der Floh atmet solche Begriffsmonster ein wie dicke Luft. Sie lasten eher wie ein Alb auf seiner schmalen Brust. Sein Vater versinkt im Sessel hinter seiner Zeitung. Die Mutter strickt. Beide mit Brillen auf den Nasen. Beide schweigend.

„So, jetzt aber ab ins Bett! Gute Nacht.“

Das waren schon ziemlich viele Wörter für einen ganzen Abend.

Und unter dem Bett lauern natürlich auch irgendwelche Ungeheuer.

Worüber sollte man denn auch reden?

So redet er auch kaum mit sich selbst. Schweigt vor sich hin mit Schmollmund und denkt sich kein Teil. Am besten gar nicht erst hinhören oder gar hin denken. Die wenigen Sätze verheißen sowieso nichts Gutes.

Das scheint auch die Mutter zu denken: Möglichst brisante Themen ausklammern. Geld zum Beispiel. Anschaffungen zum Beispiel. Die anderen zum Beispiel. Den eigenen Mann möglichst nicht wütend machen. Das geht nämlich ziemlich schnell. Also auch hier: Mund halten, die Dinge einfach aussitzen. Das scheint es, was der Floh nachhaltig lernt.

Es wird nichts vorgelesen, es werden keine Geschichten erzählt. Jeder steckt in seinem eigenen Schweigen fest, wie in einem Sumpf. Nur ja nicht bewegen, sonst sinkt man nur tiefer ein!

Und all die Begriffsbrocken sind längst im Schlund der rasenden Zeit verschwunden. Jetzt durchschaut er sie endlich. Jetzt sind sie aber auch nicht mehr wichtig. Damals viel Lärm um nichts. Oder doch nicht?

Die Gegenwart füllt sich gerade mit einem Wust an neuen Begriffen, die wie Hornissen über den Erdlingen brummen, als wären es bedrohliche Wahrheiten, denen man nicht ausweichen kann.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – nein.

Einmischen, nachdenken, zuhören, überprüfen, besprechen, verändern, helfen, Widerstand leisten, wenn gelogen und betrogen wird.

20 Sep.

Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 50 – Leseprobe

Über Anmut und Gracie – Teil I

Je länger er darüber nachdenkt, desto klarer scheint ihm zu sein, dass die Bilder der Wirklichkeit, die er sich macht, unablässig in Bewegung sind: unscharf werden, weg driften, verwandelt wieder zurückkehren und eine scheinbar völlig neue Geschichte erzählen, einfach so.

Was für ein Fest der Sinne, was für eine Vielfalt, was für Überraschungen!

Aber die Augenblicke in den Armen der Kunst sind demgegenüber stets Augenblicke des völligen Bei-Sich-Seins, der Wahrheit. Kleist, der Sprachfetischist, hat es geahnt, hat es immer wieder thematisiert und gespürt, dass man ihn eher für überspannt, für verirrt, für verloren hielt als für einen Spurenleser, einen Menschenfreund, der Hände ringend seine Botschaft anbietet. Aber niemand will ihm zuhören. Denn jeder scheint zu spüren, dass damit die Stunde der Wahrheit angesagt wäre, der Entscheidung, lieber alt vertraute Pfade blind und taub weiter zu stapfen oder barfuß im Fließsand sich zu bewegen. Verunsichert, ängstlich und auf die Hilfe anderer angewiesen.

Thomas Hettche scheint in seinem neuen Roman „Herzfaden“ (was für ein genialer Titel!) genau diesen Pfad schreibend zu begehen und den Leser einzuladen, ihm vorsichtig und fasziniert zugleich zu folgen.

Und für jeden ähnelt der Weg dem des anderen seit jeher:

Am Anfang sind es die Wärme und die Flüstertöne, mit denen die neuen Erdenbürger in den Schlaf geredet oder gesungen werden. Aber schon hier bilden sich die ersten Bilder heller und dunkler Phantasien, die dem Nesthocker die Angst nehmen können, aus dem Nest zu fallen, allein gelassen zu werden. Oder eben auch nicht. Dann wächst die Angst und wird zunehmend die Bilderwälder verdüstern und durchbeben.

Dann beginnt die Zeit der Geschichtenerzähler. Und wieder werden Wörter gelernt und Bilder dazu gemalt und umgekehrt. Der kleine Mensch malt sich die Welt groß und fremd, aber auch voller Abenteuer und Riesen und sich selbst als Teil davon. Schließlich verwischen sich die Bedeutungen und schmelzen in das, was gut und böse bedeuten soll, und die Ängste kichern wild dazu ihren Albtraumreigen. Wo soll es hingehen, wer kann helfen, wer lehrt mich das fürchten?

Allmählich verfestigen sich die Erzählungen zu eingebildeten Wahrheiten, werden Wegweiser auf den Reisen, die nötig sind, um sich aus dem alten Bildervorrat zu lösen. Die Narrative wachsen und wachsen, der Heranwachsende sieht sich umstellt von zu vielen Angeboten im Dauerregen der zauberhaften Flimmerwelten, die wie Sirenen Tag und Nacht ihr Lied singen von Glück und Erfolg. Wer ihnen erliegt, ist verloren für sich und seinen eigenen Weg.

Denn das Herz braucht stets einen schier unzerreißbaren Faden, der es hält und über alle Unbill des Lebens trägt, als wären die Gefahren nur eingebildet und nicht wirklich. Anmut und Gracie? Wo? Wie? Warum?

16 Sep.

Autobiographische Blätter – Neue Versuche – Leseprobe # 49

Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich, denke ich!

(ein philosophisches Märchen, Teil I)

Vor langer, langer Zeit – genau genommen vor fünfundsiebzig Jahren – kam elendig schreiend ein kleines Kind zur Welt – umgeben von sechs Schutzengeln, besser bekannt als die Dämonen der Angst.

In dem düsteren Raum – im offenen Kamin prasselte ein nur wenig wärmendes Feuer – lag die Wöchnerin schwer krank auf einem Notbett, ihr Mann – auch er vor Angst kaum bei Sinnen – half nach Kräften. Aber sie hatten wenig Hoffnung, dass der schreiende Junge die nächsten Stunden überleben würde. Wenigstens hatten sie ihn gemeinsam zur Welt gebracht.

„Wo bleibt nur der Arzt?“ keuschte sie unter schlimmen Schmerzen.

„Der! Der traut sich doch nicht, der hat bestimmt Angst.“

„Und die Hebamme, warum ist sie nicht gekommen?“ ächzte die Mutter.

„Ach die! Die hat sicher andere Sorgen, als uns zu helfen“, stöhnte der Vater mit Händen voller Blut.

Und tief in den Ecken des dunklen Zimmers hörten schweigend die Dämonen zu. Sie nickten. Zurecht waren sie gekommen. Leise schlichen sie sich zu den dreien hin und flüsterten dem elenden Schreihals unentwegt ins winzige Ohr:

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

Ob er es hören konnte? Sie waren sicher zu leise. Aber es war eine schier endlose Litanei.

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

So wurde die Angst sein verlässlicher Begleiter von Anfang an.

Die ganze Welt um ihn herum versank ja auch gerade in Angst und Schrecken. Der große Krieg lag in den letzten Zügen und suchte, wen er noch alles mitreißen konnte.

Aber das Unheimliche an diesem Schrecken und dieser Angst war, dass sie die Menschen packten, diese aber stumm blieben. So hörte auch das Neugeborene nach und nach auf zu schreien. Aber es fing nicht an zu trinken, es wurde immer weniger, immer stiller.

Die kranke Mutter betete zu ihrer Göttin, ihr doch in ihrer Not zu helfen. Und sie wurde wohl erhört. Eine Nachbarin tat täglich das Nötigste, um das neue Menschenkind am Leben zu erhalten. Sie kam jeden Tag. Die Mutter, in ihren Fieberträumen, bekam es kaum mit.

Auch der lange große Krieg schlidderte zappelnd in sein Ende. Doch noch mussten junge Männer an den Galgen, wenn sie nicht mehr kämpfen wollten. Man hängte ihnen Pappschilder um den Hals, worauf geschrieben stand: Deserteur oder Verräter oder Feigling. Und stolze Offizier unterschrieben eiskalt Todesurteile, viele. Voller Angst und schweigend sahen die Überlebenden zu. Schweigen und Angst, das waren die beiden Portalfiguren des kleinen Jungen, der dennoch leben wollte.