02 Juli

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 44 – Leseprobe

Vor der Ankunft in Ithaka

Parturiunt montes, nascetur riduculus mus…(Horaz)

Vulkane waren seine Lieblingsberge, schon immer. Er ist die Maus, die hektisch im Krater hin und her wuselt und nicht weiß, ob sie nach unten oder nach oben flitzen soll…Andere nehmen ihm die Entscheidung ab. Sprachlos spielt er mit und kommt voran.

Nach einer beispiellosen Irrfahrt über wild wogende Wellenberge an verführerischen Sirenen vorbei und nach manchen ungeplanten Landgängen auf fremden und unwirtlichen Inseln scheint er nun wieder in die Bucht von Ithaka einzulaufen…

Wenn er jetzt müde am Ufer steht und aufs unendliche Meer blickt, dann kommen sie wieder, die wohlversorgten Erinnerungsbilder und umschmeicheln den nachdenklichen Odysseus. Nein, er war nie ein listenreicher, nein, auch war er kein großer Krieger. Er war ein unruhiger Läufer, der nirgends wirklich sesshaft werden wollte. Er hat noch die freundlichen Worte des Abschieds im Ohr, die eben erst auf ihn herab rieselten. Man dankte ihm überschwänglich, bedauerte seinen Weggang. Dem Alten muss man kein Märchen erzählen. Aber die heilige Buerocratia will es so. Dann soll es auch so sein. Mit seiner weißen Mähne stand er da in der großen Halle, ließ sich beklatschen, beschenken und ging dann ins gleißende Licht hinaus.

Wie oft hätte er schon verabschiedet werden sollen? Wie sehr hat er solches Gebaren gemieden, gehasst? Nachdenklich lässt er die Augenblicke noch einmal vortreten:

„Nun, was willst du mir sagen, Mönch?“ „Nun. Du hast deine Sache gut gemacht, bis auf Mathematik. Die alten Sprachen, Geschichte – das war offensichtlich schon damals deine Welt.“

„Das mag wohl sein, aber ich hatte es nicht vor Augen. Ihr hättet deutlicher die Talente würdigen müssen. Man huldigte lieber der Distanz und blieb im Unverbindlichen. Schade. So wurde ich mir kaum bekannt.“

Schnell wendet er sich ab, sieht sich noch mit seinen beiden Portalfiguren im Siebengebirge zu Mittag essen, dann ist er wieder allein. Sie hatten ihn gefragt, wohin die Reise denn gehen sollte. Ausweichende oder irreführende Antworten gibt er gern, wenn überhaupt. Was soll er denn auch sagen? Er übt sich lieber weiter im Schweigen, eines seiner besten Disziplinen. In Uniform gab es sowieso nicht viel zu sagen. Er machte einfach, was er sollte, und machte es gut. Und zum Glück keine Verabschiedung am Ende.

So vergingen die Jahre. Wie in einem zittrigen Kaleidoskop verwackeln die Bilder kunterbunt in seinem Gedächtnis dazu. Sirenen gab es zuhauf.

(aus: Der Gesang der Flusskrebse. Roman von Delia Owens. Carl Hanser Verlag 2019 München – „…Kya ließ die Zeitschrift sinken. Ihre Gedanken

trieben dahin wie die Wolken. Manche Insektenweibchen fressen das Männchen nach der Paarung auf, überlastete Säugetiermütter verlassen ihre Jungen, viele Männchen entwickeln riskante oder gerissene Strategien, um ihre Konkurrenten bei der Fortpflanzung auszubooten. Nichts schien zu ungehörig, solange nur die Uhr des Lebens weiter tickte. Kya wusste, dass das keine böse Seite der Natur war, dass es sich lediglich um einfallsreiche Methoden handelte, um den Fortbestand der Spezies allen Widrigkeiten zum Trotz zu sichern. Bei Menschen musste es doch um mehr gehen.“)

Hätte es auch gehen können – zumal es über Nacht eine Pille gab, die alle Panik dem Männchen beim Kopulieren nahm. So suchte er hektisch nach der großen Zauberin, die es nicht gab. Der Fortbestand der Spezies unterlag fortan kopflastigen Weisungen und Zukunftsvisionen.

Und wie er jetzt so da steht, kann er nur den Kopf schütteln: Was für Wörterberge schüttete er vor sich auf, um sich dahinter ratlos verbergen zu können! Niemand bekam ihn damals wirklich zu Gesicht. Maskentanz, weiter nichts. Zauberreigen in Endlosschleife. Er muss vielen Abbitte leisten, vielen.

Wie auf einem Marathonlauf hastet er von Anlegeplatz zu Anlegeplatz, lässt sich gerne stärken – am besten im Laufen – und weg ist er wieder.

Schließlich entscheidet er abrupt am Ziel zu sein und will seinen Beitrag zum Fortbestand der Spezies leisten. Auch seine Begabungen beginnen Wirkung zu zeigen, allmählich.

Schließlich lässt er sich nach Jahren des Schaffens und Bildens verabschieden. Erst viel später wird er verstehen, wie gerne man ihn weg lobte – er war ihnen zu wenig vernetzt und zu erfolgreich unterwegs. So verstand er nichts von dem, was eigentlich abging. Ihm selbst versagte fast die Stimme dabei.

So legte er an einer neuen Insel an, die er maßgeblich neu gestalten wollte. Eine schöne Aufgabe für ihn, der er sich maßlos widmete. Den eigenen Kindern allerdings fehlte so zu oft der rastlose Architekt.

Und als er wieder in See stechen musste, verbat er sich vehement lobende Abschiedssuaden. Denn inzwischen war er nicht nur der Worte mächtig, sondern hatte auch gelernt dahinter zu schauen. Neid Missgunst und mutwillige Unterstellungen verbargen sich hinter säuselnden Lobeswolken. Stattdessen war es bloß guter Wind für die offene See. Reich beladen mit wertvollen Gütern und einer großen Familie legte er ab und fühlte sich frei wie ein Seeadler, der von oben das kleinliche Treiben scharf beäugt und gerne hinter sich lässt.

So begannen die großen Jahre und vergingen wieder. Feste ohne Ende? Wie vom Winde verweht stehen sie jetzt vor seinem wehmütigen Auge: Er war angekommen und demütig geht er in die Knie: Mutter Natur hat ihn reich beschenkt. Einiges von diesen Geschenken kann nun weiter wirken. Wie schön!

14 Juni

Leseprobe – Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 41

Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

S. 333 – „Meine Geschwister und ich schüttelten nur den Kopf, wenn wir das Wort stabilisieren hörten, mussten nicht einmal aussprechen, was wir dachten: Dass er genau das immer befürchtet hatte, dass er nicht auf diesem niedrigen Niveau dahin vegitieren wollte, eher sollten wir den Stecker ziehen.“

(Dem alten Floh geht es genauso: sein treuester Bundesgenosse ein Leben lang, sein Körper, beginnt langsam müde zu werden. Zusammen mit Salome will er bald möglichst eine Patienten-Verfügung verschriftlichen, damit genau das nicht passiert: Stabilisierungsmaßnahmen um ihrer selbst willen, nicht aber zum Wohle des alten Flohs, der in solchen medizinischen Maßnahmen nicht das sehen kann, was sie wohlwollend meinen: Das Beste für den Patienten. Nicht nur will er den Kindern zur Bürde werden, nein, er möchte auch selber solches nicht erleben müssen.)

336 – „Ein Vater schafft seinen Sohn aus seinem Fleisch und Blut und aus seinem Geist und prägt ihn dann mit seinen Vorstellungen und Träumen, auch mit seinen Brutalitäten und Misserfolgen. Doch der Sohn, auch wenn er von seinem Vater ist, kann nicht alles über seinen Vater wissen, weil der Vater vor ihm da ist. Immer ist der Vater schon viel länger auf der Welt als der Sohn, das kann der Sohn nie aufholen, er wird nie alles wissen können. Kein Wunder, dass die Griechen glaubten, nur wenige Söhne könnten es mit den Vätern aufnehmen. Die meisten sind ihnen unterlegen, nur sehr wenige übertreffen sie. Es geht nicht um Wert, sondern um Kenntnis. Der Vater kennt den Sohn, aber der Sohn wird den Vater nie restlos kennen.“

(Damit kann der alte Floh wenig anfangen: Zumal sein Vater den zweiten Sohn kaum gekannt hat, genau wie der Sohn den Vater nicht. Und wie hat der ersten Sohn, Alfred, sein Halbbruder, unter diesem Vater gelitten! Sie haben gewissermaßen beide verpasst sich gegenseitig kennenzulernen. Wie wird es da seinen Söhnen gehen? Was wissen und was denken die beiden, David und Jonathan, von ihm? Sicher haben sie mehr, viel mehr erlebt und erfahren mit ihrem Vater als der mit seinem Vater. Aber die Wahrnehmungen bleiben natürlich Wahrnehmungen. Und je öfter bestimmte Geschichten erzählt werden, umso mehr werden sie geglaubt. Das ist das Geheimnis von jedem Narrativ – privat wie politisch. Und damit seine Kinder wenigstens kleine Korrekturen ihrer eigenen Vater-Wahrnehmungen vornehmen können (so sie wollen), liefert er ihnen mit diesen autobiographischen Blättern und den vielen Tagebüchern zumindest Material, das dann aber im Lesen wieder zu einem Teil ihrer eigenen Wahrnehmungen werden wird.)

S. 338 – „“Hatte Daddy denn nicht immer gesagt: Zieht einfach den Stecker raus, ich will nicht in einem Pflegeheim enden und im Rollstuhl herumgegeschoben werden?“

30 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 38

Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 38

S. 315 – „Wieder ging mir durch den Kopf, was Brendan an dem Tag gesagt hatte. Vielleicht könnte man ja sagen, dass dies eine Geschichte über das Zuhören ist. Darüber, wie die eigene Sichtweise die Wahrnehmung beeinflusst. Tatsächlich ist es doch so, dass Polyphem von vornherein nur hört, was er hören will.

(Da fällt dem alten Floh natürlich auf Anhieb auch noch Mephistoteles ein, der bei seinem Vertrag mit Faust auch nicht richtig zuhört; er ist ja viel zu aufgeregt, weil er glaubt, den Fisch im Netz zu haben. Was nun den kleinen Floh betrifft – natürlich wie immer heraufbeschworen in den wohlwollenden Bildern des alten Flohs – so ist er sich nicht so sicher, ob das auch auf ihn zutrifft. Denn eigentlich wollte er gar nicht nur das hören, was er hören will; er wollte eigentlich gar nichts hören. Denn jedes Mal stellte sich beim „Zuhören“ das mulmige Gefühl ein, er versteht es nicht, sollte es aber wohl verstehen können. Somit bastelte er sich ein Hörverfahren, dass beim scheinbaren Zuhören einfach auf Durchzug schaltete – und zwar so effektiv, dass er tatsächlich nichts mehr erinnerte, danach. Das wüste Selbsttor, das er dabei jedes Mal schoss, war ihm natürlich gar nicht klar. Und eigenartiger Weise kam er sogar durch mit dieser Unsinns-Methode. Erst viel, viel später – zuerst beim Lesen, wo er nämlich auch nicht sich selber zuhörte von Anfang an, so dass er hinterher überhaupt keine Ahnung hatte von dem, was er gerade gelesen hatte – bringt er sich im Selbststudium und in kleinen Schritten das Zuhören und Antworten bei; aber auch hier ist wie bei all seinen geistigen Klimmzügen die Intuition der Transmissionsriemen, der ihm brauchbare Ergebnisse ermöglicht, von denen die anderen dann meinen, er habe sie durch analytische Denkschritte herbeigeführt. Darüber hinaus hatte er das große Glück, dass Salome in sein Leben trat und mit ihrer Stimme und ihren Geschichten die Wende in seinem Leben ermöglichte.

Grundsätzlich hören und sehen wir Erdlinge wie selbstverständlich immer nur das, was wir hören und sehen wollen. Dazu ist die individuelle Sehweise per definitionem basal: weil jedes Gehirn eingeschlossen bleibt im eigenen Bilderwald, sind alle Verallgemeinerungen n a t ü r l i c h e r –

w e i s e willkürlich und unzutreffend. Mit Hilfe der Sprache – die aber auch im selben Bilderwald geerdet ist – versuchen sie dann eine begehbare Brücke zu schlagen zum Bilderwald des Gegenüber. Es bleibt aber der Satz:

Die Grundsituation jeglicher Kommunikation ist das Missverständnis.

Das versucht der alte Floh immer vorauseilend mitzudenken, um die Annäherung möglichst friedfertig und günstig zu gestalten. Und dass jemand wie Sokrates deshalb lieber die Frage in den Mittelpunkt stellt, als die Antwort, zeigt doch nur, wie klug dieser Mann ist –

Ich weiß, dass ich (es) nicht weiß.

So ist das Leben eine endlose und zauberhafte Reise zu sich selbst und den anderen. Die einzig sichere Ankunft dabei ist nur der eigene Tod.)