22 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 36

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 36

S. 272 – „Diese ständige Konkurrenz zwischen Vätern und Söhnen, diese ewigen Geschichten von Erfolg und Misserfolg.“

(Der Floh wollte seinem Vater wohl vorführen, dass es jenseits von materiellem Erfolg auch einen ideellen Erfolg geben kann. Wie soll er sich sonst erklären, dass es ihm stets einerlei war, wie viel er verdiente. Immer hatte er das Gefühl, dass es bei weitem ausreichte. Er brauchte nie „viel“. Es reichte für die Familie. Auch im Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen hatte der Floh immer das Gefühl, dass deren Unzufriedenheit eher peinlich war: Waren sie doch alle abgesichert und versorgt. Aber seine Zunft kam ihm sehr oft vor wie eine Rotte von Erbsenzählern, die mit der Abhängigkeit, in der sie stehen, einfach nicht gelassen umgehen konnten. Also musste immer der Arbeitgeber – das Land – herhalten für schlechte Laune.

Der Floh sah sich nicht als Konkurrent. Sein Ehrgeiz richtete sich vorrangig auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler. Deren Wertschätzung war ihm wichtig. Und die bekam er durch sein Engagement. Punkt. Und das ist unbezahlbar.

Jetzt hofft er als der alte Floh natürlich, dass seine eigenen Kinder diesen alten Konkurrenz-Schuh einfach nicht anziehen, sondern wissen, dass ihr Vater froh ist, wenn ihnen ihre Arbeit Freude bereitet. Zahlen dahinter sollten immer bloß sekundär bleiben.

Seine eigene Karriere kommt ihm sowieso vor wie eine sehr zufällige und von ihm nicht wirklich betriebene Veränderung, die sich nach und nach und einfach so ergab. Zufälle spielten dabei wohl die Hauptrolle. Er hat viel Glück gehabt. Die Menschen, die ihn gefördert haben, müssen ihn für fähig gehalten haben. Er selbst war lange viel zu stolz, sich um seine Karriere zu kümmern. Meint er zumindest heute. Aber auch das ist – wie alle Geschichten – ein Narrativ, wie man heute so zu sagen pflegt, das sich fleißig weiter entwickelt, sich gerne verselbständigt und eigensinnige Wege hinter dem Rücken des Erzählers selbst geht. Vieles wird eben so erzählt, weil der Erzähler gerne möchte, dass es so eine Erzählung sei, die plausibel sein und den eigenen Blickwinkel angenehm bedienen soll. Wer sollte den Erzähler daran hindern können? So spinnen die Erdlinge alle fleißig an ihrem eigenen Narrativ – es soll bunt, originell und erfolgreich sein, klar. Misserfolge haben da immer nur die anderen, die missgünstigen Verlierer. Klar.

Also bleibt die Spannung zwischen Vätern und Söhnen stets bestehen. Die Individualität kann sich nur in Abgrenzung zum anderen definieren. Darüber muss man aber nicht streiten. Die Liebe bleibt davon sowieso unberührt. Doch Spannung belebt die Lebensreise ungemein. Irrwege gehören mit zum Programm. Punkt.)

22 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 35

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 35

S. 272/3 – „So sehr sich mein Vater später auch darüber freute, dass seine Kinder studierten, Dissertationen schrieben, die er selbst nicht geschrieben hatte, akademische Titel erwarben , die er selbst nicht hatte erwerben können – es muss schwierig gewesen sein. Unsere Erfolge, auf die er so stolz war, müssen ihn umso lebhafter an seine eigene Geschichte erinnert haben, an die Wege, die ihm verschlossen geblieben waren und die er, wie ich jetzt wusste, aus irgendeinem Grund ausgeschlagen hatte.“

(Heute ist Jonathans 32. Geburtstag. Der alte Floh kann sich nur freuen, was die Kinder aus eigenem Vermögen aus sich gemacht haben. Er, als der Vater, kann nur staunen. Es ist wie mit den Lehrern: Die Wirkung, die der eigene Einfluss auf die Kinder ausgeübt hat, ist im Nachhinein nicht offensichtlich, erklärbar. Er weiß nur, dass er immer wie der Fels in der Brandung sein wollte. Ohne Worte, einfach schützend und fördernd da sein. Und natürlich auch Vorbild. Natürlich? Jedenfalls werden die Kinder durch seine Art zu sprechen, zu agieren Bilder präsentiert bekommen haben, an denen sie sich abarbeiten mussten. Genauso wie es der kleine Floh mit seinem eigenen Vater erlebt hat. Sein Widerspruch hat ihn zu dem gemacht, der er wurde. Im Ergebnis erkennt er den Vater mehr wieder, als er es ursprünglich für möglich gehalten hat. Aber wie sein Vater den Werdegang seines jüngsten Sohnes erlebt hat, das bleibt weiter im Dunkeln. Es wurde nie thematisiert. Weder direkt, noch indirekt. War er stolz, war er froh, war er gekränkt, verletzt? Wie hat er seine eigene, an Hunger und Armut vorbei driftende Kindheit (1906) in Bayern verarbeitet? Er konnte sehr wohl stolz auf sich und sein Lebenswerk sein. Er hat seiner Familie ein Leben in gesichertem Wohlstand ermöglicht. Wortkarg und streng, aber immer fürsorglich und weitblickend. Wie sehr muss es ihn da gekränkt haben, dass sein jüngster so herablassend damit umging? Ist nicht sein eigener, privilegierter Lebensabend nur denkbar vor dem Hintergrund dessen, was sein Vater seinen Kindern hinterlassen hat? Und das nicht nur materiell. Nein, auch seine klare, sparsame und bescheidene Lebensweise hat den Floh maßgeblich mit geprägt. Fürwahr! Jedes Mal, wenn er zum Grab der Eltern geht, leistet er Abbitte, dankt er. Eine Haltung, die dem Floh als jungem Mann völlig abging. Es gab einfach keinen Diskurs im Hause Seiler. Selbst Illa hat später wenig klärendes nachreichen können, wollen. Ein grauer Schleier des Unausgesprochenen lag und liegt über dem Leben der Eltern – wie haben sie sich kennen und lieben gelernt? Wie haben sie die Ablehnung der Familie Losem – Illas Eltern – verarbeitet? Was ist aus den Träumen der begabten Sängerin geworden? Was verbarg sich hinter der Eifersucht des erfolgreichen Fabrikanten? Warum wollte sie ihn wieder verlassen? Was hat sie getrieben? Wie sehr hat der „Ruf“ maßgeblich zum Ausharren beigetragen: Was denken die „Leute“? Stolz waren sie beide. Zugeständnisse mussten sie beide machen. Wer war der stärkere?)

18 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 34

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 34

S. 285 – Penelope ist genauso misstrauisch und zögerlich, wie Odysseus es die ganze Zeit war. In ihrer Vorsicht offenbart sich die G l e i c h g e s i n n t h e i t (h o m o p h r o s y n e)

des Ehepaars.

(das kann der alte Floh bestätigen: Salome und er sind in ihren Ansichten, in ihrem Humor, in ihren Interessen und in ihrer Diktion verwandt; so ist ihr Alltag abwechslungsreich und unterhaltsam, weil sie lauter Themen haben, die sie beide interessieren – sie sind g l e i c h g e s i n n t .)

… Hier haben wir also wieder das große Thema Identität, sagte ich in die Runde. Wie werden die beiden einander beweisen, wer sie sind? Schließlich sind zwanzig Jahre vergangen, schwierige Jahre, Jahre von Leid, Scham und Bedrängnis…

Wenn das Äußere, das Gesicht, der Körper nicht mehr wiederzuerkennen ist – was bleibt dann? Gibt es ein inneres „Ich“, das die Zeit überdauert?

(der alte Floh würde eher nein sagen: Sein früheres Ich ist ihm so fremd, so verloren gegangen, dass er kaum sagen kann, dass es seins war. Und sein späteres Ich scheint mit dem frühen wenig zu tun zu haben; also hat da nicht etwas überdauert, sondern da hat sich etwas Verpupptes in einem neuen anderen verwirklicht. Dazwischen gibt es nicht einmal eine schlingernde Hängebrücke, bloß einen tiefen Abgrund. Dramatisches Bild. Denn das eine hängt natürlich mit dem anderen zusammen, nur hat es sich weit vom Beginn entfernt. Er bräuchte ein gutes Fernglas, um klar zu sehen. Jetzt ist es eher ein vernebelter Eindruck, der sich ihm bietet. Und je länger und öfter er darüber nachdenkt, umso weniger sicher ist er sich in seinem Urteil. Was allerdings gut zu seinem I n t u i t i o n s – Argument (s. # 33) passt: So ungenau das Bild ist, das er sich jetzt von dem kleinen Floh macht, so ungenau war wohl auch das Bild, das sich der kleine Floh von sich gemacht hat, wenn überhaupt.)

S. 286 – Jeden Morgen schaue ich in den Spiegel und denke: Wer ist diese alte Frau, die mich ansieht? Ich fühle mich noch immer wie eine Sechzehnjährige.

(Der alte Floh erkennt noch vage den kleinen Floh, wenn er in den Spiegel schaut. Aber er fühlt sich auf keinen Fall wie ein sechzehnjähriger. Er ist froh, dass er sich nicht mehr so fühlt, wie damals: verängstigt, ratlos, unsicher; wütend, weil unfähig in allem. Aber er fühlt sich jetzt wie in seinen fünfziger Jahren: gut gelaunt, selbstbewusst, kreativ und voller Humor. Sprache ist seine Welt – lesen, schreiben, gestalten. Deshalb schreibt er unentwegt Tagebuch, im blog – www.johannes-seiler.de , schreibt an seinen historischen Romanen, schreibt Fabeln für die Enkelkinder, schreibt an autobiographischen Blättern (AbB) und arbeitet sich mit seiner Phantasie in Tagträumen an den vielfältigen Lektüren ab.)