09 Feb

Leseprobe zu neuen Geschichten à la Boccaccio

Die Freunde wollen die Zeit in der Isolation mit Geschichten Erzählen überbrücken – damals wie heute rücken sie zusammen.

Die dritte Geschichte – erzählt von Makarìa, der Königin des Tages.

Am nächsten Tag – sie sind alle noch voller Hingabe in ihrer Tag-Traum-Welt vom Vortag unterwegs, denn dort gelten ja nicht die kleinlichen Spielregeln von Zeit und Raum – treffen sie sich wieder auf der Lichtung des kleinen Hains im Park. Umgeben von sanften Hängen, auf denen stolz schlanke Pinien nach oben streben, machen sie es sich bequem, um auf eine neue Reise in unerforschte Gegenden ihrer Seelen aufzubrechen.

Heute ist Makaría die Königin des Tages. Sie sitzt an einen alten Kirschbaum gelehnt in der Mitte der Lichtung, strahlt liebevoll ihre Freundinnen und Freunde an und gibt Panfilo ein Zeichen mit der Hand anzufangen. Der aber zögert. Sie versteht ihn auch ohne Worte. Allein sein Blick sagt ihr alles. So fängt sie also selber an zu sprechen:

„Meine lieben Freunde“. Wie von Zauberhand geht ein leises Beben durch die Runde, denn ihre weiche, tiefe Stimme trifft in allen eine Bilderwelt, die gleich zu glitzern, zu schimmern, zu strahlen beginnt. Warm, weich und wohlig schön. Frei und ungezügelt lassen sie ihren Gefühlen jede Freiheit, die sie wollen. Frei und ungezügelt kreisen in ihrem Innern wunderbare Sehnsüchte in bunten, wallenden Kleidern und Kostümen, die sich begierig drehen, tanzend schwingen und nach und nach entkleiden, abfallen wie duftende Puderwölkchen, als wären sie fleischgewordene Atemzüge, als könnten sie jede Verwandlung selbst gestalten, vogelleicht und rotkehlchenlustig. Und Makaría spürt, wie die träumende Runde nach mehr, nach noch mehr fleht und hofft. Das tut ihr so gut. So beginnen auch in ihr sonst unvorstellbare Wünsche Gestalt anzunehmen, nehmen sie mit, um frei und ungezügelt jenseits jeder Schwere leicht und heiter zu kreisen, als wäre alles möglich, alles da, was sie sich tagträumend wünscht. Was wollte sie eigentlich erzählen? Was wollte Panfilo hören? Eben noch meinte sie es genau zu wissen, da war es aber schon davongeflogen. Selbst die Frage fällt ihr nicht mehr ein. Auch dass sie alle vor der Pest hierhin aufs Land geflohen sind, dass sie hier erzählend gegen die Zeit anrennen wollen, dass sie jetzt mehr als früher das Leben in voller Blüte leben wollen, frei und ungezügelt, all das ist ihr jetzt nicht mehr Wunsch oder Zukunft, sondern wirklich da: Wie in einem Zauberkreis wandelt sie leichtfüßig auf moosweichem Boden und lässt sich von prallem Abenteuer zu prallem Abenteuer treiben als wäre es ein Traum. Sie ist sich aber sicher – und ihren Freunden geht es genauso, das spürt sie unbedingt – dass alles, was sie gerade atmend fühlt und fühlend ahnt, ganz durch sie hindurch strömt frei und grenzenlos. Wörter werden zu Figuren, Figuren zu Welten zwischen Sonne, Mond und Sternen und sie selbst auf atemlosen Flug durch unbekannte Gefühle, das warm pochende Blut in den Ader wie ein mächtiger Strom, der jede Klippe überspült wie ein Kinderspiel grenzenlos und frei. Schon immer.