02 Feb.

Europa – Meditation # 435

Das Momentum. Kampf für den Erhalt der Demokratie.

Das Momentum. Alle reden von der Demokratie. Als wäre sie ein Fetisch, ein Voodoo-Tanz auf dem Vulkan des nahenden Weltendes. Dabei ist sie eine ins Alter abgerutschte Dame, die sich dennoch Tag für Tag schrille Klamotten anzieht, um vor dem Spiegel wie Wulle auszusehen. „Auf in den Kampf…!“ Lustig, dass einem sofort Opernchöre einfallen, als ginge es um Absacker, Feierabendbier und Abtanzen. Das Sommermärchen wird beschworen und die Demo-Welle bejubelt. Das Momentum.

Doch wir sollten uns keinen Sand in die Augen streuen lassen. Wir sollten besser vom Wirtschaften sprechen, von Gewinnern und Verlierern beim Vermögen mehren, denn diese Welle läuft nun schon ein paar Jahrhunderte wohlfeil für einige und ziemlich unwohlfeil für die meisten. Das Format, in dem das gewinnbringend stattfindet, lautet zwar Demokratie, hat aber mit der Herrschaft des Volkes nur wenig zu tun. Denn die sogenannte repräsentative Demokratie ist ein bequemes Muster, in dem die Hauptstricker weiterhin das Sagen haben und der Rest die Strickrollen beisteuern dürfen. Längst sind sie als Mitentscheider still gestellt, freiwillig. Wenn jetzt vom Kampf für die Demokratie die Rede ist, sollte man sich nicht blenden lassen: Viel Lärm um nichts. Solange nämlich nicht wirklich eine gerechtere Verteilung des erwirtschafteten Reichtums bindend verabredet wird, bleibt die Fassade „Demokratie“ nichts weiter als ein probates Feigenblatt, das alles beim Alten belässt. Das Momentum wird sich nicht lange anbieten zum Ändern der Verhältnisse. Denn alle vier Jahre ein Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen, kann nicht der Lohn für den „Kampf“ sein, der gerade so viele umtreibt. Die „Alternative“ lauert weiter.

Der kritische Durchblick muss dem Momentum folgen: Wer darf warum was nach wie vor durchsetzen in einer Gesellschaft, die gerade dabei ist, die allermeisten im Digitalen abzufertigen, so dass sie gerade wie in Trance vor sich hin dümpeln und das Analoge aus den Augen verloren haben. Die Gewinner dieses „Kampfes“ sind die bekannten Verdächtigen, die großen „Player“, die längst jenseits der Spielregeln – global, versteht sich – der überkommenen Demokratien ihre Schäfchen ins Trockene gelockt haben.

Dann bleibt das momentum eben nur ein momentum, die Demos ein lustvolles Spektakel ohne weitere Folgen, weil ja schon der Rose-Ball, die Oskar-Verleihung und der Fußball-Alltag alle Resourcen verbraucht.

Nüchtern muss deshalb das Tempo verlangsamt, die Analyse beendet, die gravierenden Änderungen für alle angegangen werden! Im analogen Feld.

25 Jan.

Europa – Meditation # 434

Erwacht aus einem Wintermärchen?

Natürlich brauchen wir Europäer neue Visionen, euphorische Zukunftsbilder, um mit der neuen Weltsituation konstruktiv umgehen zu können, denn die alten Weltbilder liegen alle am Boden:

The British Empire – nur mehr eine Legende mit dicken Börsen weniger in dicken Hütten in den Midlands; wehmütig rückwärtsgewandte Träume. Der Rest frustriert und abrandaliert.

Gloire Francaise – ein übler Scherbenhaufen; die Kosten für die Staatskasse in den letzten Jahrzehnten alle in den Sand gesetzt; trotzig weiter phantasierte Großmachtbilder.

Europäische „Gemeinschaft“ – wie ein Krebsgeschwür hat sich die Bürokratie das Unterfangen unter die Nägel gerissen: ausufernd, intransparent und Seilschaftenwackelpudding.

Vereinigte Staaten von Amerika – ein Hauen und Stechen von blindwütigen Machtbolzen, die nicht mehr miteinander reden, sondern auf den Heilsbringer hoffen. Als hätte die Säkularisierung nie stattgefunden!

Summa: Die Träume vom attraktiven WESTEN, der mit seinem Wirtschaftsprogramm und seinem Demokratie-Modell die restliche Welt beglücken wollte, ist grandios gescheitert – will es aber nicht wahrhaben. Der Brexit ist das beste Beispiel dafür und der allgemein spürbare Trend in die rechte schiefe Bahn in allen Staaten Europas spiegelt genau wieder, was die Menschen an die Stelle des Verlusts an Seinsgewissheit setzen wollen: Ein scheinbar „neues“ Narrativ von klargespültem WIR-GEFÜHL, das nicht nur an vergangene „Größe“ anschließen soll, sondern diese sogar noch überhöhen möchte. Trotzige Gesten von Stärke, Furchtlosigkeit und Rechthaben begleiten lautstark und grell diese wachsende Herde von ängstlichen Lämmern, die einem Leitbock blind zu folgen bereit scheinen.

Wie könnten denn nun aber realistische Zukunftsbilder aussehen?

Zuerst einmal sollten wir uns verabschieden von dem Wunsch, gleich ein Gesamtgemälde vor uns haben zu wollen.

Aber was für einen Anfang auf jeden Fall schon einmal hoffnungsvoll stimmen kann, ist das gute Gefühl, das seit dem letzten Wochenende landauf, landab zu spüren war: Dass so viele mit Kind und Kegel auf die Straßen gingen, vergnügt eng beieinander standen und lautstark diesem „neuen“ Narrativ vom klargespülten WIR-GEFÜHL („WIR SIND DIE WIRKLICHE ALTERNATIVE!“) nicht nur die Hymne an die Freude (Marktplatz Bonn) entgegen sangen, sondern auch unmissverständlich klare Kante zeigen wollten, dass mit ihnen deren Zukunftsversprechen nicht zu haben sei. Eine emotionale, aber auch politische Solidarität trug diese Momente abwehrbereiter Demokraten: „Mit uns nicht!“ war die Losung, die lebensfrohe Demonstranten da unmissverständlich rüber reichten. Das war ein gutes, ein sehr gutes Gefühl – in der Öffentlichkeit – und reicht nun auch in unseren Alltag Tag für Tag hinein: Wir lassen uns einfach unsere hart erarbeiteten Gewissheiten nicht kaputt reden, wir lassen uns einfach nicht unsere bunte, quirlige und sehr wohl funktionierende Arbeitswelt zerreden, wir lassen uns vor allem aber auch nicht auseinander dividieren in solche und solche.

Wenn die vielen Probleme – fast alle hausgemacht – wirklich nachhaltig gelöst werden sollen, dann nur g e m e i n s a m , Stück für Stück und geduldig. Entscheidend dabei wird allerdings sein, ob wir wieder mehr in überschaubaren Größen planen, entscheiden und verändern lernen und uns vom Größenwahn der sogenannten Mega-Projekte endgültig verabschieden. Der in den Demos offenkundig gewordene Optimismus von Jung und Alt lässt wirklich hoffen: Da schlummert so viel soziale Kraft, das ist fast wie im Märchen.

Vielleicht folgt nun in mehreren kleinen Geschichten der gemeinsame Aufbruch aus einer festgefahrenen Situation, für die wir uns alle mit verantwortlich fühlen und die wir nicht nur einfach an „die da oben“ delegieren wollen.

Regional jedenfalls lässt sich vieles viel wirkungsvoller angehen, wenn der „bunte Haufen“ nicht nur eingebunden wird in die Planungen, sondern auch in die Ausführungen. Und wer da alles mithelfen will, der soll ruhig dazu stoßen, von wo auch immer er herkommt!

Die etablierten Parteien müssen endlich aus ihrem Dornröschenschlaf aufwachen: Die demokratische Basis ist nicht nur Wählermasse, sondern Akteur. Akteur.

19 Jan.

Europa – Meditation # 433

Wenn Lügen zu Wahrheiten gestylt werden.

Seit dem dritten Jahrhundert verkündet die neue Religion im Römischen Reich, dass alle Gläubigen nach dem Tod reich beschenkt ewig im Himmel weiter leben werden. Das gefiel nicht nur den Sklaven, Veteranen und Armen, sondern auch den Reichen und Mächtigen: Denen versprach die Kirche, wenn sie reichlich spenden, ihr Vermögen nach dem eigenen Tod der Kirche vermachen, werde man täglich für sie beten, dass der gnädige Gott sie zu sich holen möge. Das machte die Bischofssitze und die Klöster mächtig reich. Ihre Tempel sollten schon einen Vorgeschmack von der Pracht im Himmel vor Augen führen: prächtige Fresken, bunte Mosaiken, warmes Kerzenlicht und berauschender Weihrauchduft. Die Rechnung ging auf – zumindest für die Kirche. Ihre Versprechungen konnten sich ja jedweder strengen Untersuchung entziehen, da zu keiner kritischen Befragung je Gott selbst erschien – so sollten zumindest Wunderwirken und Visionen von Heiligen jede Beweisführung überflüssig machen.

Diese Botschaften würden gläubige Menschen nie als Lügen bezeichnen – denn wer nicht glaubt, kann die angebotene Wahrheit natürlich auch nicht als solche wahrnehmen. Der größte Schatz – sozusagen der Hauptgewinn – wartete auf jeden, der es glauben konnte. Keine Lüge, wahr!

Der neue Prophet aus Arabien lieferte dann noch einen weiteren Schatz hinzu: 72 Jungfrauen – die Huri. In Sachen Beweisführung muss das Wort im Koran reichen – auch hier liegen Visionen eines Mannes vor, der glaubt, über Gabriel die Richtlinien Gottes empfangen zu haben. Und sie gleich aufschrieb. Also auch noch eine sexuelle Dreingabe. Keine Lüge, wahr!

Im religiösen Bereich läuft demnach die Bedeutung des Wortes Lüge ins Leere.

Der Likud verkündet 1970 Israel vom Fluss bis ans Meer auszudehnen zu wollen.

Die Hamas zieht 1988 nach und verkündet den gleichen Anspruch für die Palästinenser.

Das halten die Israeli für ein Horrorkonzept, weil es ja die Vertreibung der Juden aus Palästina bedeuten würde, verschweigen aber, dass sie selbst für sich das gleiche Konzept beanspruchen und damit die Vertreibung der Palästinenser fordern. Kommen wir hier mit den Begriffen Lüge und Wahrheit weiter? Wohl kaum.

Es scheint, dass nur breites unverfälschtes Wissen, die Möglichkeit bietet, zwischen Lügen und Wahrheiten zu unterscheiden. Aufklärung eben.

In den USA gewinnt gerade ein Mann jede Menge Stimmen mit dem Argument, die Gegenseite habe gelogen, habe ihm das Amt gestohlen. Wenn auch die Zahlen ein anderes Bild ergeben, ist sein Argument nach wie vor wie in „Wahrheit“ verpackt und die ihn gerne als Präsident sähen, ersparen sich natürlich gerne eine sachliche Prüfung des Vorwurfs der Lüge, da er als scheinbar Geschädigter natürlich sympathisch rüber kommt.

Und die Hamas brettert Tag für Tag ihr Credo, dass jeder tote Kämpfer direkt ins Paradies eingeht. In Angst und Schrecken ist solche eine Aussicht der letzte Rettungshaken für den letzten Schritt vorne an der Front oder als Selbstmordattentäter.

Und so ist es auch mit der Demokratie und ihren Slogans der Französischen Revolution: Liberté, Fraternité, Egalité: auch dahinter verbirgt sich bis heute eine patriarchalische Eigentumsgesellschaft, die mit Hilfe des Erbrechts und der gewaltsamen Unterdrückung der Frau etwas als Wahrheit verkauft, was nach wie vor gegen den Himmel stinkt. Die Reichen werden immer reicher, Homizide, Prostitution und gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen können weiter übertönt werden von der Lügengeschichte einer freien und gleichen Gesellschaft, die in einem nationalen „WIR“ gefeiert und befeuert wird. In den USA wird jeder, der es nicht nach oben schafft, mit „selber schuld“ entsorgt, bzw. der, der es geschafft hat (mit welchen LÜgen auch immer°!) mit dem Credo gepriesen, dass gerade wirtschaftlicher Erfolg bereits eine Auszeichnung Gottes auf Erden sei und damit der Freifahrtschein in den Himmel!

Im sogenannten Sommermärchen erlebten die Menschen für einen Moment so etwas wie ein Fest unter Gleichen, weil beim public viewing, in überschaubaren Gruppen, die Unterschiede im sozialen Hintergrund keine Rolle spielten. Mit dem Bier in der Hand qautschte man mit jedem per du über den wahnsinnigen Pass und den zu unrecht gegebenen Elfmeter. Ein Moment eben, ein Märchen deshalb. Denn eine Nation ist immer eine Fiktion von Gemeinschaft – das WIR ist ein konditioniertes Kopfprogramm, das bei günstiger „Wetterlage“ halbwegs zu funktionieren scheint. Ein wirkliches WIR kann der homo sapiens – aufgrund seiner biologischen Ausstattung – lediglich auf einer viel kleineren Ebene erleben – in Dorf, im Kiez, im Veddel. Der Nationalismus war somit oft gezwungen, in Kriegen nach außen (oder auch nach innen) von seiner Fassadenhaftigkeit abzulenken. Auch dafür haben wir ein probates Wort erfunden: Sozialimperialismus. Es hilft aber auch nicht über den kollektiven Selbstbetrug hinweg, lenkt höchstens davon ab. Dennoch hat die Wahrheit gegen solch eine kollektiv inszeniert Lüge keine Chance mehr. Sie mutiert unter den Hand und im Laufe der Zeit zu einer neuen „Wahrheit“. Als wäre die Art, in der zur Zeit die Massen leben und arbeiten, geradezu natürlich, selbstverständlich, das wahre Leben eben.