25 Mai

Europa – Meditation Nr. 501

Europa – ein Festival gemeinsamer Anstrengungen im WIR.

Der Ego-Trip, der Narziss, perdu – Individualismus und Egoismus, die siamesischen Zwillinge der cartesianischen Welterlösungspleite – verkommt zur Trampiade, denn die damit verbundene Selbstisolierung ist sowas von widernatürlich, dass sie außer teuren Spiegelkabinetten und noch teuereren Psychoanalysestunden und Dagobert-Duck-Geldschwimmbädern keinerlei Lebensfreude oder gar Glücksmomente zu erzeugen vermag.

Die philosophische Wegbereitung dieser mutwilligen, geistigen Verirrung geht zurück auf die Flucht nach vorne, als sich die gegängelten Menschen nicht länger von einem Weltbild antreiben lassen wollten, sondern Gott und die Welt endlich als das erleben wollten, was sie sind: eine unüberschaubare Vielfalt an Varianten, die sich jedweder Vereinnahmung in eine Monokultur per naturam verweigert, die aber – wie in einem salto mortale – in rein quantifizierenden Mustern zu üppiger Blüte gebracht werden sollte.

Nun – nach knapp dreihundert Jährchen – sind nicht nur die Philosophen ratlos in der Zirkuskuppel, sondern auch die Zuschauer in der Manege: trotz intellektueller Schwerstarbeit, trotz dialektischer Kapriolen, trotz provokantester Übertreibung sind die Menschen genauso klug wie zuvor. Denn bei aller Neuheit der verzaubernden Denkangebote blieben die seit der frühen Kulturen im Zweistromland erdachten patriarchalischen Monismen – Monotheismus, Monogamie, Monarchie – beinhart erhalten; und nicht nur zum Schaden der Frauen, by the way. Der langatmige Fernsehfilm, der gerade für Millionen Zuschauer aus dem Vatikan ausgestrahlt wurde, ist nur eine weiteres Beispiel für dieses Leichtgewicht an spukigem Gebrabbel über einen heiligen Vogel und seine blutigen Brotkrumen, die einen ehemaligen naiven Wanderprediger aus Palästina als Hokuspokus-Wiedergänger durch Zeit und Raum – schwupp-di-wupp – auf den Petersplatz zu zaubern verspricht. Auf einem Meeting alter Männer im Jahre 325 zu Nicäa war nämlich nach heißer Debatte mehrheitllich beschlossen worden, dass es diesen neuen Turbo-Gott gleich in dreifacher Ausfertigung geben sollte – wer dem widersprach galt als Ketzer und durfte verfolgt werden. Daran halten alte Männer in hübschen Kleidern und eigenartigen Mützen – erinnern ein bisschen an die der Priester des Mithras-Kultes – bis heute feste fest. Europa hatte da ihre gewaltsame Entführung auf dem Rücken eines weißen Stiers bereits hinter sich – die zwar die weitsichtige genannt wird, deren Weitsicht allerdings erst jetzt zum Tragen kommen könnte.

Denn in diesen Tagen widerfährt ihr so etwas wie eine zweite Geburt, der weitsichtigen Europa: ihre Jugend verbrachte sie nämlich in völliger Abhängigkeit von den Europäern, die nach Übersee geflohen waren, um dort ein sogenanntes neues Jerusalem aufzubauen. Das dauerte zwar, ist jetzt aber als Bruchbude mit einem Witzbold als Barkeeper in die Jahre gekommen, von dem sich die Europäer nun aber gerne abnabeln, denn so dumm kann man ja gar nicht sein wie der. Von dem will doch keiner auch nur einen Tag abhängig sein. Der quasselt jede Stunde was Neues, freut sich über seine follower, die hoffen, dabei auch etwas zu verdienen, und weiß am nächsten Tag schon nicht mehr, was er am Vortag leichtfertig versprochen hat. Das Tempo ist auf seiner Seite. Da bleibt einfach keine Zeit, auf Schwachstellen aufmerksam zu machen. Da müssen seine Leute nun mal durch.

Die zweite Geburt der Europa in all ihrer Vielfalt lässt sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: GEMEINSAM SIND WIR STARK.

Das W I R ist die starke Antwort auf das schwächelnde ICH, das im Namen der sogenannten Aufklärung als Königsweg in die Selbstbefreiung antrat und krachend scheiterte.

Das W I R sonnt sich nun in der Vielfalt europäischer Kulturen und Traditionen, die alle an einem Strang ziehen können und wollen: Unabhängig, frei und stark der Welt zeigen, dass jenseits des Patriarchats und jenseits des kalten Materialismus ein arbeitsames Leben als gemeinsame Anstrengung zum Wohle aller möglich ist.

20 Mai

Europa – Meditation Nr. 500

Der neue Dreisatz im Chaos-Tanz der europäischen Wirklichkeit.

Erster Satz:

Das Credo vom Individualismus „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ hat sich als schlimme Verlockung, als hohl und mörderisch erwiesen. Denn statt einer Befreiung des Ichs betrog sich der kluge Kopf in einem steilen Aufstieg zu einer noch nie da gewesenen Entfremdung von sich selbst, in dem er sich den scheinbaren Gesetzmäßigkeiten der Materie und des Marktes verschrieb, in dem er mehr und mehr zum Getriebenen und bloß noch Gebrauchten verkam, der das Mehr an Haben dickköpfig als ein Mehr an Sein sich selbst einzureden vermochte und gleichzeitig nicht nur der eigenen Tier-Natur, sondern auch der sie tragenden äußeren Natur so viel Gewalt antat, dass er die Verkümmerung seiner Seele genauso wie die Klima-Katastrophe und die Ressourcen-Ausbeutung als Weg zur Vollendung der „Aufklärung“ verbrämen musste. Die Kosten sind immens. Geld wurde so zur endgültigen neuen Religion, die zu zelebrieren er all seine Phantasie einsetzte. Das Bild vom goldenen Kalb aus dem alten Testament wird so zu einem Menetekel, das sich in diesen Tagen auf unheimliche Weise dermaßen vergrößert hat, dass die Selbstverwirklichungswünsche des einzelnen nur noch über die Schiene der Geldvermehrung funktioniert. Die Auswüchse werden überdeutlich in der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich: die Deals, die in der letzten Woche in Saudi-Arabien und den Emiraten ausgehandelt wurden, sind das letzte und verlogensten Beispiel dieser Irrfahrt des Individuums zu sich selbst: da ist nichts mehr übrig als Kälte, Gewalt, Lüge und Betrug.

Zweiter Satz:

Vielfalt ist die entschiedene Antwort auf diesen totalen Schiffbruch der völlig misslungenen Emanzipation des Individuums mittels cartesianischer Mittel. Die Europäer können sich aus der Sackgasse des amerikanischen Modells endlich selbst befreien: Sie müssen sich nur auf den Wert der Vielfalt europäischer Traditionen, Sprachen und Kulturen besinnen, die – wie in einem großen Konzert – eine so starke Melodie auf den Weg bringen kann, dass nicht nur nach innen selbstwirksame Kräfte freigesetzt werden, sondern auch nach außen eine Stärke sichtbar wird, die in der Vielfalt der Welt wie eine neue Einheit erscheinen kann. Sie wird dann in dieser globalen Krise zum beeindruckenden Vorbild für Hilfe durch Selbsthilfe – eben nicht nur auf dem eigenen Kontinent, sondern auch auf der ganzen Welt. Das bisherige westliche Modell wird über Nacht zu einem Auslaufmodell, weil die tönerne Botschaft in sich selbst zusammenfällt und an ihre Stelle die „Vereinten Völker Europas “ (VVE) die ihre setzen, die weder der Selbstausbeutung noch der Ausbeutung der Natur anheim fällt, sondern behutsam und nachhaltig an den Schäden sich abarbeiten wird, um gemeinsam mit ihren „followern“ den Kollaps des Planeten doch noch abzuwenden. Die Kräfte dieser Vielfalt müssen überhaupt erst zum Bewusstsein kommen – da haben die Medien ihre große neue Aufgabe – in der Bildung der nachwachsenden Generation muss das zum Kern-Curriculum in allen europäischen Ländern werden, damit die Flucht in die Welt der Pixelsucht obsolet wird. Es ist höchste Zeit, denn die Stunde der Wahrheit hat geschlagen.

Dritter Satz:

Den cartesianischen Sicherheitsversprechen durch Maß und Zahl werden dann die ernüchterten Individuen in Europa eine Haltung entgegen setzen, die sich bescheiden als neugierige Nomaden-Existenz versteht, die im Denken wie im Tun das „Unterwegs Sein“ auf seine Fahnen schreibt: die im Vorläufigen, Experimentellen, im Probelauf also, die Lebensdevise sieht: Wir – als aufrecht gehende Tiere mit einem zu Überspanntheit neigenden Gehirn – sind neugierig unterwegs zu neuen Versuchen, die weder der Gewalt, noch dem Selbstbetrug das Wort reden, sondern der Sterblichkeit bescheiden Tribut zu zollen bereit sind, um im jeweiligen Moment des eigenen Lebens alles daran zu setzen, mitzuhelfen, das gemeinsame Schicksal Europas doch noch zu meistern – eben nicht in Selbstüberheblichkeit und Größenwahn, sondern in Solidarität mit den Nachbarn, die man kennt und respektiert und von denen man weiß, dass sie für die eigene Rettung lebensnotwendig sind. So könnte Europa der neue Trendsetter werden. Weitsichtig.

12 Mai

Europa – Meditation # 499

„Wir sind und waren doch immer nur Freunde!“

Nach einem wirren Wechselbad der Gefühle und Botschaften, die den Europäern Tag für Tag zugemutet wurden – und nicht nur ihnen – , schleift bereits die Kraft der Gewohnheit selbst das Ungewöhnlichste wieder glatt: „dank“ eines neuen Kanzlers und „dank“ eines neuen Papstes, dem undramatischen Ende der Bundesligasaison und dem bevorstehenden Vatertag, den verlässlichen Hiobsbotschaften aus der Ukraine und Palästina, sind die Europäer wohl bereit, im neuen Alltag der Alten Welt der Neuen Welt Paroli zu bieten: auf dem schmalen Grat zwischen Skylla und Charybdis – zwischen Weltkrieg und Klima-Kollaps – entscheiden sich die Europäer mit dem Rücken an der Wand für ein völlig neues Kapitel ihres Selbstverständnisses und ihrer Rolle in der Welt:

Die verrottete Nabelschnur zum großen Bruder aus Übersee ist von diesem selbst mutwillig durchschnitten worden; so müssen die Europäer aus ihrem bequemen Wohlstandstaumel endlich aufstehen und auf eigenen Füßen wandeln – erwachsen werden eben. Es ist aber nur scheinbar ein großer Trennungsschmerz, war doch die Beziehung nie eine partnerschaftliche, sondern immer eine ökonomische und auch ideologische Abhängigkeit. Dass sie fast 80 Jahre funktionieren konnte, war in den ersten vierzig Jahren der Angst vor dem Over-Kill gezollt und in den letzten vierzig Jahren den Gesetzmäßigkeiten einer einseitig exportorientierten Volkswirtschaft.

Es musste also erst ein tobendes Rumpelstilzchen à la Trampel auf dem Parkett erscheinen, bevor die Europäer die scheinbaren Bequemlichkeiten einer „alten Freundschaft“ als das erkennen konnten, was sie ist: fast wie siamesische Zwillingen hatten sie sich aneinander gebunden: ein starker, großer und schwerer Zwilling mit einem kleinen, aber auch potenten Zwilling. Wer das Sagen hatte, war unausgesprochen offensichtlich: der schwere Knabe natürlich.

Nun ist es vorbei damit.

Die Verwirrung ist groß, denn der Ritt in die Selbständigkeit ist weder ein Selbstläufer, noch eine Selbstverständlichkeit. Die Europäer liebäugeln mit zwei Optionen (es bleibt allerdings nicht viel Zeit sich zu entscheiden, denn die großen „Player“ dieses stöhnenden Planeten rangeln schon um die besten Plätze): Rückkehr in die Sackgassen nationaler Prioritäten und Fremdenfeindlichkeit oder Aufbruch in ein kühnes Netzwerk verwandter Völker, die ihr Eigeninteresse am besten erfüllt sehen, wenn sie die Interessen der anderen als hilfreich und nötig verstehen lernen: faire Zusammenarbeit unter gleichen – „Wir verteidigen gemeinsam unseren Erdteil, wissen um seinen Wert gerade in seiner d i v e r s i t y und schätzen unsere Nachbarschaft als hohen Wert im eigenen Leben und Erleben.“ Doch das eigene Leben und Erleben ist den Europäern in den letzten 80 Jahren fast abhanden gekommen, so vorauseilend brav übernahmen sie nicht nur das neo-liberale Wirtschaftskonzept des großen Zwillings, sondern auch sein werbewirksam in Szene gesetztes Zivilisationsmuster: „the american way of life“. Allzu beflissen wurden in all den Jahren die eigenen historisch gewachsenen sozialen Muster preisgegeben, Traditionen, Besonderheiten und regionale Folklore hintan gestellt, um sich von Konsumrausch und dem Mantra: „Verbrauche einfach mehr als du brauchst!“ über den Markt treiben zu lassen. Bis in die Sprachhülsen ließ man sich verformen, neu aufstellen und über den Tisch ziehen. Da war allerdings kein Freund am Werk, sondern ein erfolgsorientierter Business-man, der eiskalt eins und eins zu addieren wusste.

So ist es ein unsanftes Erwachen, das nach Kater schmeckt. Kopfschmerzen bereitet noch und noch.

Das Tempo diktiert die Klimakrise, das neue Konzept für die Europäer muss schnell auf die Beine kommen, sonst kommen wir aus dem Regen bloß in die Traufe.