12 Jul

Fortsetzung der alten Geschichte # 102

Ein Unheil kommt selten allein.

Woltónos weiß nicht, ob er träumt oder träumt, dass er träumt. Es ging aber auch alles so schnell. Sie waren doch den beiden Frauen schon so nahe gewesen, er hat sie fast riechen können. Und seine zwei Schergen waren bereit, den Priesterinnen ein schnelles Ende zu bereiten. Und dann dieser Sandsturm, das Rauschen, die Verwirrung. Die drei Soldaten, die ihnen den Auftrag eingeflüstert hatten, woher kannten die ihn? Und da war doch noch jemand gewesen. Der aufgewirbelte Sand ließ ihn nur schemenhaft erkennen. Thórtys und Nemetos wischen gerade den Staub von ihren Armen und Beinen. „Waren wir nicht gerade noch in dieser Gasse den zwei Frauen hinterher?“ Sand spuckend und hustend fragt Thórtys ratlos die Männer, die nur die Schultern hochziehen und weiter Sand von ihrer Kleidung wischen. Dann bekommen alle drei einen Lachanfall. Ein Witz, das ganze, ein Witz. Also einfach nicht länger darüber nachdenken, sondern den nächsten Schritt gehen, denkt Woltónos verärgert. „Los, Freunde, wir müssen zurück in die Stadt, es dämmert bald!“ Wild entschlossen springt er auf, stößt sich fast den Kopf an der niedrigen Decke der Höhle und rennt nach draußen. Thórtys und Nemetos schauen sich verstört an. Aber die Angst treibt sie an, Woltónos zu folgen. Als sie nicht viel später – der Sonnengott ist bereits auf seiner Heimreise – am Tor ankommen, halten die misstrauischen Wachen sie an: „Halt, wo kommt ihr her, wer seid ihr drei?“ Da wird ihnen klar, dass sie vergessen hatten, sich abzusprechen. Was sollen sie jetzt sagen? „Wir? Wir kommen vom Westen,“ beginnt Nemetos, Thórtys nickt nur. Da kommt ihm Woltónos zu Hilfe: „Wir sind fromme Pilger, wollen dem Meeresgott opfern!“ „So, so, dem Meeresgott!“ Die zwei Wächter lachen laut los. „Was ist denn daran so komisch, sagt uns lieber, wo wir eine Herberge finden!“ quatscht nun auch Thortys dazwischen. Die beiden Wächter flüstern miteinander, dann treten sie dicht an die drei heran: „Ihr beiden“, dabei zeigen sie auf Thórtys und Nemetos, „eure Sprache hat euch verraten. Eure oos passen nicht zu eurer Herkunft, dem Westen der Insel. Du“ – und dabei zeigen sie verächtlich auf Woltónos – „du kannst gehen, bei dir hört man es, dass du vom Westen der Insel kommst. Ihr beiden aber, ihr seid verdächtig und werden eingelocht.“ Schon werden sie gepackt, gefesselt und abgeführt. Woltónos steht eine zeitlang sprachlos da, dann grinst er breit und macht sich aus dem Staub. Er ist froh, die beiden los zu sein. Sie waren ihm sowieso bloß ein Klotz am Bein. Sardónios kann ich auch alleine aus dem Weg räumen.

09 Jun

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 101

Europa findet am Meer zu neuer Zuversicht.

Ihr Herz ist übervoll mit wohltuenden Gefühlen, denn ihre Freundin hatte ihr eine Botschaft überbracht, die sie so glücklich macht wie nie. Denn trotz der großen Gefahren, denen sie schutzlos ausgesetzt war, fühlt sie sich nicht bedrückt, verängstigt oder sogar mutlos. Nein. Wie unvermeidliche Prüfungen kommen ihr jetzt die Vorfälle vor, und das schrille Geschrei der drei Raben kann sie auch nicht mehr erschrecken. Denn ihre große Göttin hält ihre Hand über sie. Seit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter – an den mörderischen Vater will sie gar nicht denken (und sie weiß ja auch nicht, dass er inzwischen gefallen ist) – seit ihrer Entführung und ihrer Flucht aus der Höhle hat sich ihr Leben so sehr gewandelt, dass sie jetzt voller Zuversicht und Pläne im Abendsonnenlicht allein zum Meer gelaufen ist. Sie braucht die Stille, die Brise, das leise Wellenrauschen.

Lange steht sie so da. Schaut über das Wasser und fühlt sich leicht und beflügelt. Ich könnte jetzt, beginnt sie mit sich zu sprechen, ich könnte jetzt die ganze Welt umarmen. Mit weit ausgebreiteten Armen steht sie lange so da. Atmet tief ein und aus. Langsam. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das tut gut. Da sieht sie verschwommen auf dem Wasser die Delfine kommen. In einem großen Kreis schwimmen sie vor ihr in der Bucht. Europa stellt ihnen gleich eine Frage: Schickt euch die große Göttin? Ein helles und lautes Tönen fliegt da vom Wasser zu ihr hin. Vielstimmig antworten sie ihr. Dabei tauchen sie elegant unter und schießen schäumend wieder hervor, drehen sich in der Luft, rufen laut und lassen sich wieder fallen. Sie plappern durcheinander, scheinen ganz aufgeregt, soviel haben sie zu erzählen. Europa weint Tränen des Glücks dabei. Sie hört zu, versucht zu verstehen, was sie wohl meinen könnten. Es klingt fröhlich, vorwitzig, beschwingt und unbeschwert.

Und als jetzt im Westen der goldglänzende Wagen des Sonnengottes seine Fahrt beendet, kommen die Delfine noch einmal ganz nahe zu ihr hingeschwommen. Jetzt aber still und mit wenig Bewegungen, ihre großen Augen scheinen ihr zuzulächeln. Dann – wie auf ein geheimes Kommando – wenden sie sich dem offenen Meer zu. Europa kann es nicht fassen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie als Mensch alleine hier am Wasser steht und Wasserwesen zuschaut, als wären es enge Verwandte von ihr. Das kühle Wasser, das über ihre Füße gleitet, wie ein weiches Band schwesterlicher Verbundenheit zwischen ihr und ihnen. Vertraut. Eine Welt, ein Leben in all seiner Vielfalt und Pracht. Ein Augenblick, der sie stärkt und in ihren Plänen bestärkt: Hier, auf dieser Insel, hier will sie mithelfen, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiterzugeben.

31 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 100

Alles hängt mit Allem zusammen.

Es gibt auf diesem wunderbaren Planeten von Zeit zu Zeit Momente, die wie Knotenpunkte einer unendlichen Geschichte miteinander vernetzt bleiben und in manchen Menschen wohltuende Kräfte freisetzen, weil sie sich als Teil dieser großen Glückswelle fühlen und davon den Mitmenschen so viel wie möglich abgeben möchten.

So fühlt sich in diesem Augenblick auch Chandaraissa, die Hohepriesterin der großen Göttin. Sie hat das Gefühl zu schweben, als sie jetzt zum Tempel eilt. Und die Menschen, denen sie begegnet, grüßen sie ehrerbietig und beglückt. Freudvolle Schwingungen schweben hin und her, berühren Kinder, Alte und müde Fischer, die ihren mageren Fang auf einmal wie ein großes Geschenk ansehen und einfach nur glücklich lächeln. Was liegt da in der Luft?

„Europa, Europa!“ so ruft sie durch die kühlen Gänge des Tempels, „wo steckst du denn?“

Verblüfft schauen die jungen Priesterinnen aus ihren Zellen, als sie ihre Herrin im Gang rufen und vorbeihuschen sehen. Was ist mit ihr? Warum strahlt sie so? Da gibt es gleich genug zu erzählen. Wenn Chandaraissa so gut gelaunt ist, dann kommt das auch ihnen zu gute. Übermütiges Gekicher und prustendes Getuschel füllt die Luft im Anbau des Tempels. Als lade die Bienenkönigin ihr Volk zu einem überraschenden Empfang, so surrt es wieder einmal durch die Gänge.

Europa ist gerade in einem wohligen Tagtraum gefangen, als sie Chandaraissas Stimme hört. Hört sie es in ihrem Traum oder ist sie es wirklich? Als sie jetzt die Augen öffnet, sich im Dämmerschein ihrer Zelle von ihrem Lager erhebt, wird ihr klar, dass ihr Traum in die Wirklichkeit hinein verströmt. Denn da steht auch schon Chandaraissa in der Tür:

„Europa! Darf ich herein kommen?“

„Was für ein Frage, liebste Freundin!“ antwortet Europa und winkt sie zu sich herein. Sie umarmen sich fest und innig. Dann erzählt Chandaraissa von dem Sinneswandel der alten Ratsherren. Europa kann es gar nicht fassen. Aber es fällt ihr nicht schwer, die Botschaft zu deuten: Die große Göttin hat eben Großes mit ihnen vor und die fast schon vergessene Botschaft vom Glück breitet sich weiter unaufhaltsam aus. Die Hohepriesterin und Europa sind die Boten und durch die Verbindung mit dem Minos von Kreta wird der Auftrag der großen Göttin umso leichter zu erfüllen sein. Da können auch drei schwarze Raben nichts dran ändern, geht es Europa plötzlich durch den Kopf. Alles hängt eben mit allem zusammen. Und die Lebensfreude stärkt die Menschen in ihrem Wollen und Tun zu immer mehr Zuversicht und Freundlichkeit.