10 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 104

Zur Feier des Tages…10-08-20

Europa schlendert wie in einen Traum verwoben leichtfüßig vom Strand zurück. Der Tempel der großen Göttin ist ihr Ziel. Die Bilder von den lustigen Delfinen gehen ihr dabei nicht aus dem Kopf.

„Das müssen wir feiern, Chandaraissa!“ So begrüßt sie ihre Freundin, die Hohepriesterin. Die kann nur staunen. Wovon redet sie? Und dieser Glanz in Europas Augen, was geht da in ihr vor? Lange halten sich die beiden Frauen umarmt. Ihre Körper – so hautnah aneinander gedrückt – sprechen ihre eigene Sprache miteinander in diesem Augenblick des Glücks.

„Europa, was meinst du damit?“

„Heute ist unser Festtag. Unsere Freundschaft und unser großer Plan des kommenden Frühlingstanzes ist sinnfälliger Ausdruck der Botschaft, die in uns wirkt“, flüstert Europa ihr ins Ohr.

Ein wohltuender Schauer läuft Chandaraissa den Rücken hinunter. Ihre Lippen drücken ein innigen Kuss auf den Hals der Freundin.

„Aber warum gerade heute?“

Chandaraissa ist gespannt auf Europas Antwort. Den ganzen Tag über musste sie an die Freundin denken, hatte sie Pläne gemacht, war sie in wunderbaren Tagträumen mit ihr unterwegs gewesen. Ihr Atem fühlte sich so leicht an, ihre Bilder im Kopf beflügelten sie so sehr, dass sie sogar glaubte zu fliegen.

Europa zieht sie auf den kühlen Marmorstein zwischen zwei hohen Säulen und erzählt. Von den Delfinen, von dem Flüstern der Wellen, von dem sanften Sonnenuntergang und ihrer Zwiesprache mit der Göttin.

Mit geschlossenen Augen sitzen die beiden Frauen nebeneinander lange einfach nur da. Ihr Atem scheint der einzig hörbare Laut zu sein. Eine fast unmerkliche Brise weht in den Innenhof vor dem Tempel herein.

Später werden sie sich gegenseitig gestehen, in diesem leisen Wehen die Stimme der großen Göttin vernommen zu haben. Sie sprach mit ihnen wie drei Frauen eben miteinander sprechen. Zugewandt, geduldig, neugierig und voller Hingabe an das gemeinsame Thema: Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin stehen die beiden dann auf. Jetzt weiß auch Chandaraissa, was Europa meint.

„Du hast Recht. Wir müssen es feiern. Heute. Gleich.“

Die Glückstränen in Europas Augen sind herrliche Geschenke für Chandaraissa. Zielstrebig eilen sie nun zu den Gemächern der Hohepriesterin. Bald verwöhnen die vielen Öllämpchen den weiten, hohen Raum mit unruhigen Formen, die über die Wände tanzen. Die beiden Frauen genießen Brot und Wein, summen kichernd vor sich hin und fühlen sich so stark wie nie.

Sie werden die Botschaft zusammen weiter tragen. Niemand wird sie aufhalten können. Sie fühlen sich so stark jetzt.

12 Jul

Europa – Meditation # 208

Wolkenkuckucksheim lässt grüßen

oder

wie ein junger Philosoph redend die Welt verändern möchte.

Mit Hilfe der findigen Erfindung Sprache formen wir Menschen – einer besonderen Gattung aus dem Tierreich – die Bilder, mit denen wir uns die Welt scheinbar verfügbar und erklärbar machen. Schon lange. Wie die Hirsche röhren wir unsere wichtigen Botschaften in die Welt, die wir gerne so sehen wollen, wie wir sie eben wollen. Und wie schön uns das Echo zu bestätigen scheint. Europa at its best.

Und in diesen Tagen raschelt es besonders wild im Bilderwald. Ein junger Philosoph aus Bonn macht endlich einmal Nägel mit Köpfen – Platon, Nietzsche & Co erbleichen vor Neid – indem er uns den Spiegel vors Gesicht hält und tönt: Das Weltgeschehen ist aus den Fugen, eine Zeitenwende steht ungeduldig vor der Tür. Wirklich wahr? Zeitenwende, Weltgeschehen. Ja. Der ersten These folgt flugs die zweite: das kollektive Bewusstsein verändert, verschiebt sich. Das kollektive Bewusstsein! Was ist das denn? Aha, Erdrutsch oder so ähnlich. Es lässt sich trefflich mit großen Bildern jonglieren. Das Publikum schaut fasziniert zu und ist beeindruckt. Weiter, mehr! Jetzt als nächstes Mal so richtig Angst machen: Was uns droht, sei die Selbstausrottung der Menschheit in kleinen Schritten. Wow. Wir stehen vor dem Beginn einer neuen Weltordnung. Abstrakte Begriffe fliegen uns nur so um die Ohren. Fast schon andächtig hören wir zu. Da weiß aber jemand unheimlich Bescheid. Oder?

Und was schlägt unser junger Philosoph aus Bonn als Rettung vor?

Wir müssen jetzt individuell, aber auch als Gemeinschaft das moralisch Richtige tun. Echt? Und was ist das moralisch Richtige, wer weiß es? Ganz einfach, das, was klug ist zu tun, sei auch das moralisch Richtige. Ungenauer geht es wohl kaum.

Wie bitte? Nein, unser dynamisches Sprachrohr wird sogar noch etwas konkreter: Alle Bereiche der Gesellschaft müssten so miteinander verschränkt sein, dass sie gemeinsam auch das moralisch Richtige tun. Wir stünden nämlich in einer „Stapelkrise“ – wie in einem Turmbau zu Babel seien die verschiedenen Krisen aufeinander gehäuft – die wir nur aus einem gemeinsamen Blickwinkel heraus überwinden könnten. Wir verstummen beeindruckt. Gemeinsam, ja. Guter Gedanke.

Dann kommt die Klimax, der Höhepunkt sozusagen: Was ist der Sinn des Lebens? Auf jeden Fall nicht Geld anhäufen und konsumieren, sagt der kühne Philosoph entschieden. Wir müssten die Frage völlig neu stellen: Woher kommen wir, wer sind wir und wohin gehen wir? Völlig neue Fragen, echt! Wirklich? Und da wir gerade durch corona so verunsichert seien, wäre es die Gunst des Augenblicks, eine Moralwelle auszulösen, die alle erfasst und alle an neue Ufer spüle.

Der Leser fragt sich betreten, was ist denn nun das neue Gemeinsame? Was?

12 Jul

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 103

Der Sturz von der hohen Klippe.

Nemetos und Thórtys hat es nun doch noch erwischt. Starr vor sich hin blickend hocken sie im dunklen Verlies und warten. Niemals hätten sie sich auf den Plan von Woltónos einlassen dürfen. Niemals. Die Rachegöttinnen haben einfach den längeren Atem.

Schritte im Gang. Die schwere Holztüre wird geöffnet.

„Los, raus, ihr zwei!“

Die Wächter packen sie unsanft an und stoßen sie hinaus. Die beiden wissen, was jetzt folgen wird. Kurzer Prozess, sie kennen das. Nur waren sie bisher immer Zuschauer gewesen, wenn verurteilt wurde. Ein wohliger Schauer war ihnen da stets über den Rücken hinunter gelaufen. Man war ja Zuschauer und nicht Angeklagter. Jetzt waren sie selber an der Reihe.

„Ihr seid Handlanger des ehemaligen Herrn der Bücher, Zahlen und Namen gewesen? Ist das richtig?“

Die Stimme des Richters schneidend und leise zugleich. Nemetos und Thórtys nicken nur. Was sie nicht verstehen, ist aber, dass Sardónios nicht mehr der Stellvertreter des Minos sein soll. Was ist da passiert?

„Stimmt es, dass Sardónios euch angestiftet hatte, die Hohepriesterin und die Fremde zu töten?“

Woher weiß der Richter davon? Die beiden trifft die Frage wie ein Blitzschlag.

„Nein, wir, wir kommen doch gerade vom Westen der Insel…“ beginnt Németos hastig zu antworten. Aber der Richter lässt ihn gar nicht erst ausreden.

„Schweig, Lügner. Sardónios selbst hat es vor dem Rat der Alten und dem Minos von Kreta zugegeben. So seid ihr jetzt doppelt schuldig. Es braucht keiner weiteren Untersuchungen. Das Urteil ist klar: Die Klippe.“

Beide schreien auf vor Schreck und Entsetzen, sie gehen wimmernd in die Knie, flehen um Gnade. Aber sie wissen, es ist alles verloren. Schon wird der große Gong geschlagen. Die Leute strömen aus ihren Hütten. Sie wissen, was das bedeutet. Sie werden Zeugen sein wollen. Die Urteile werden stets im Abendlicht vollstreckt.

Gefesselt werden sie vor der johlenden Meute her getrieben, sie stolpern, man lacht hämisch dazu. Gerüchte springen von Mund zu Mund, alle wollen es gewusst haben. Geschieht ihnen recht. Eine kleine Staubwolke zieht hinter dem traurigen Zug her wie ein Fahne nach einer verlorenen Schlacht. Es ist kaum mehr Leben in ihr, die Abendbrise hebt sie nur schwach.

Dann stehen sie beide auf der Klippe. In gehöriger Entfernung die neugierige Menge. Das Urteil wird laut verkündet. Németos und Thórtys starren in die Tiefe. Weit, weit unten, auf dem felsigen Ufer erkennen sie Möwen die gelangweilt zu warten scheinen. Niemand wird sie hinunter stoßen. Sie müssen selbst den Schritt ins Leere gehen. Zwei fürchterliche Schreie bekommt die Menge zu hören. Und Möwengeschrei. Sonst nichts.