23 Mrz

Europa – Meditation # 188

„Wir sind‘s, wir – Frucht von Hesperien ist‘s!“

(Hesperien ist der alte Name für Europa)

Da wir in Mitteleuropa gerade den Geburtstag von Friedrich Hölderlin feiern und immer wieder auch an seine große Ode „Brot und Wein“ beschwörend erinnert wird, sollte statt Weihrauch innehaltendes Bedenken angesagt sein:

In der letzten Strophe nimmt Hölderlin nämlich – als unverbesserlicher Optimist in all seinem Pessimismus für sich selbst – direkt Bezug auf Europa und den Auftrag, den er noch unerfüllt sieht: Wir Europäer nämlich hätten die Aufgabe, ein neues Zeitalter des Friedens und der gelingenden Selbstverwirklichung einzuläuten – nach all dem Übel, das wir europäische Nichtskönner in die Welt getragen hätten.

„Glaube, wer es geprüft“ heißt es dann weiter.

Und die Prüfung, die die wissenschaftsgläubigen Europäer nun Analyse auf Analyse häufend endlich in Angriff nehmen sollen, wird dann zu dem Ergebnis kommen müssen, dass wir Europäer nach Jahrhunderten des selbstverliebten Welt-Vereinnahmens- und zerstörens nun auch die Zeche bezahlen „dürfen“.

Angefangen mit den Seuchen, die Spanier und Portugiesen – von den Engländern ganz zu schweigen – in jenen Tagen zusammen mit dem christlichen Kreuz in alle Welt gerne exportierten, um schwarze kostenlose und rechtlose Arbeitskräfte per Schiff zu importieren in die sogenannte „Neue Welt“, die sie später auch gerne taufen ließen, um sie so noch besser in verängstigtem Gehorsam halten zu können (heimliches Schwängern mit inbegriffen), ging es weiter mit gnadenlosen Eroberungszügen über die Kontinente. Wer die europäische Botschaft nicht hören wollte, bekam sie hautnah zu spüren. Notfalls griffen die scheinbar unbesiegbaren Europäer auch zu besonderen Mittel – zum Beispiel zu Opium, um störrische Chinesen in die wirtschaftliche Spur der Invasoren zu bringen. Alles längst vergessen? Schon möglich, aber der Planet – ähnlich wie die Haut am menschlichen Körper – vergisst nichts, wenn es auch oft viele, viele Jahre dauert, bis die Rechnung (für häufigen Sonnenbrand zum Beispiel oder menschen- und naturverachtende Ausbeutung) präsentiert wird.

Jetzt ist es so weit: „Wir sind‘s, wir!“

Diese zum Einhalten gezwungene Phase nun ist in der Tat der rechte Augenblick all dies gewissenhaft zu prüfen, um dann an die mühsame, aber Not wendende Arbeit zu gehen, Vorreiter einer Leben bejahenden und naturverträglichen neuen Weltpolitik zu werden – jenseits von Ausbeutung und Gewalt.

In Demut vor Leben und Natur.

Wir.

Wer sonst?

20 Mrz

Europa – Meditation # 187

Ganz Europa im Griff eines lautlosen Amokläufers– scheinbar in Zeitlupe.

Im Kleinen kennen wir das ja leider schon aus der Erinnerung, als plötzlich Bilder vor unseren Augen zu sehen war, die wir bis dahin so nicht kannten. Und was machte da unser Gehirn?

Blitzschnell durchforstete es seinen Speicher und fand nichts Entsprechendes. Damit fehlte auch ein Speicher mit Daten für angemessene Reaktionen.

Dann kommt das entscheidende Signal des Gehirns – das nur für solche Fälle gespeichert ist: ABSCHALTEN.

Das heißt dann für die restlichen Nervensysteme: Alles runter fahren, alles runter fahren!

Ohnmacht.

Oder Ohnmacht ähnliche Reaktionen.

Deshalb entwickelte man für solche „Situationen“ Automatismen, die dann alle eben automatisch befolgen können, weil sie vorgegeben sind.

So ähnlich muss man sich vielleicht auch jetzt die Lage in Europa vorstellen.

In unserem Gehirnspeicher gibt es keine Bilder für das, was wir Europäer gerade erleben. Denn bisher hatten die Fans des Cartesianismus („alles ist messbar, alles ist reparabel, alles ist verstehbar“) ja geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben.

Und da kommt nun so ein Nobody aus dem Nichts, lässt sich nicht fassen, nicht messen, nicht aussortieren, nicht einsperren, und terrorisiert mit einem lautlosen Amoklauf unser aller öffentliches und privates Leben.

Da könnte man tatsächlich leicht in Ohnmacht ähnliche Zustände geraten. Aber zum Glück wissen wir ja eine zumindest kleine Antwort auf diesen Terror:

Jetzt benötigen wir – homemade – kleine, verlässliche Tagesabläufe,
Rituale, damit wir wieder auf die Beine kommen – im Kopf. Die sollten in den Familien, Wohnetagen besprochen und eingeübt werden – mit Humor und Korrekturphasen – wir sollten über uns lachen lernen, wie anders wir auf einmal unseren Tag gestalten können („das hätte ich mir niemals vorstellen können – und jetzt ist es einfach so!“).

Und was man noch zusätzlich machen könnte, ist Tagebuch schreiben:

Einmal das zurückliegende hektische Getriebe in geordnete Sätze gießen und dann das jetzt stattfindende Neue zu beschreiben versuchen und dann vielleicht auch noch Zukunftsvisionen zu skizzieren, die man dann miteinander bespricht, belacht, bewundert, verwirft, bedenkt.

Dann macht man ein einfaches Essen zusammen und bespricht die Pläne für kleine Bewegungsprogramme, neue Notizen fürs Tagebuch, übt am Klavier oder an der Gitarre und übt und übt und staunt, wie schnell man Fortschritte macht…War der frühere Alltag dem gegenüber nicht etwas eigenartig?

13 Mrz

Europa – Meditation # 185

Wie weit von uns Europäern weg gedriftet!

Unsere Auswanderer der drei letzten Jahrhunderte nach Übersee! Unsere Retter in größter Not, damals 1944…Jetzt verstehen wir Europäer sie nicht mehr, wie nach einer langen Ehe, die auf falschen Voraussetzungen fußte.

Europa war nie nur auf Eigentum, Geld und Ansehen gebaut; Wissen, Achtung, Glaube und Fürsorge waren ebenso – wenn nicht sogar wichtigere – Eckdaten von gelingendem Zusammenleben und Respekt vor dem anderen. Doch dann sollte nach dem Zweiten Weltkrieg auf einmal alles anders, besser werden: Unsere Retter aus Übersee hatten die Entwürfe und das Darlehen dafür in der Tasche. Marshall-Plan. West-Integration, Nato. Konsum. Mehr, schneller, neuer. Und dazu ein Begriff von Individualität, der sich fast ausschließlich über Statussymbole, Konkurrenz, wirtschaftlichen Erfolg und risikofreudige Geldanlage-Spiele definieren musste.

Darüber wurde die Zeit zwischen 45 und 49 schnell vergessen, obwohl sie nur gemeistert wurde, weil Not, Hunger, Krankheit und Angst zu Nachbarschaftshilfe zwang, zu solidarischem Teilen und notgedrungenem Zusammenrücken. Und siehe da, die Not ließ sich ertragen, ließ sich gemeinsam beenden – eben weil man wusste, dass man auf den anderen angewiesen war. Es war wie ein Wunder, vor dem „Wirtschaftswunder“.

Jetzt – 75 Jahre später – ist von solchem produktiven Geist nichts mehr zu spüren. Vergessen. Eher wird man heutzutage darüber arrogant lächeln: Wie klein, wie wenig, wie unfertig und wie schlicht hatten da die Großeltern den Alltag hinter sich gebracht.

Dabei steht nun zum ersten Mal für die nachwachsenden Generationen ein sogenannter Paradigmen-Wechsel an: Die Selbstverwirklichungs-Rituale sind an ihre Grenzen gelangt: Ausgehen, Cruisen, Großveranstaltungen, extravagante Reisen, Klamotten spazieren führen – erst mal auf Eis gelegt.

Was nun ansteht, ist eine völlig neue – medial und in Werbespots nicht eingeübte – Lebenshaltung. In ihr spielt Geld eine untergeordnete Rolle, weil die Basis für all diese Selbstdarstellungsorgien – das Leben selbst – infrage gestellt ist.

Der Terminkalender und die damit verbundene Feier der völligen Verplanung des Tages, der Woche, des Monats, des Jahres sind obsolet, weil Zeit – wie aus heiterstem Himmel gestürzt – plötzlich wieder als das erlebt werden muss, was sie ist: bloß gestundet. Das war sie natürlich schon immer, aber die Zeitgenossen mussten darüber nicht viel nachdenken, weil die Ablenkungsmaschinerien auf Hochtouren liefen, als hätte der Europäer tatsächlich den Sinn des Lebens – alternativlos – entdeckt.

Nun aber erkennt er nicht nur in sich selbst, sondern auch im Passanten den Bruder, die Schwester der gleichen sterblichen Großfamilie, aus der wir alle abstammen. Und da dämmert es ihm nach und nach, dass wir nicht nur auf den anderen angewiesen sind, sondern dass wir dem anderen auch helfen müssen – nicht gegen Geld, sondern weil wir alle gleichermaßen hautnah erleben:            m e m e n t o   m o r i