Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 70
Das Treffen in der Höhle der guten Geister
Das fühlt sich gar nicht gut an, denkt Thortys. Auch sein Kumpel macht keinen aufmunternden Eindruck. Und dann dieser Blick von Sardonios. Düster, bedrohlich. Was will der denn jetzt von ihnen? Fischen? Jagen? Wenn sie den doch nur los werden könnten, diesen eitlen Palasthengst. Verängstigt huscht sein Blick die bröcklige Decke der großen Höhle entlang. Fledermäuse? Oder die guten Geister selbst, die hier oft zusammenkommen? Wenn er nur wüsste, was Sardonios von ihnen will, wenn er es nur wüsste. Nemetos neben ihm glotzt wortlos vor sich hin. Und die Geschichte mit ihren Frauen ist ihm auch nicht geheuer.
„Was bist du denn so unruhig?, fragt Nemetos gereizt.
Thortys fährt erschrocken aus seiner Grübelei hoch. Also glotzt er doch nicht bloß vor sich hin? Hat er mich insgeheim misstrauisch beobachtet?
„Ich und unruhig? Wieso?“
„Nur so, nur so“, knurrt Nemetos.
Draußen hören sie ein knackendes Geräusch. Sardonios?
Die beiden atmen hektisch ein und aus. Sie werfen sich kurz wortlos Blicke zu: Jetzt nur nicht ängstlich wirken. Wir haben alles im Griff. Klar doch.
Da erscheint auch schon der Herr der Listen und Zahlen im Eingang der Höhle. Seine Augen müssen sich erst an das Dunkel drinnen gewöhnen. Gleich bellt er los:
„Wo steckt ihr denn?“
„Hier Herr“, antworten sie sofort und kommen ihm entgegen. Sie gehen dabei sehr aufrecht und versuchen so etwas wie ein kleines Willkommenslächeln. Mit einer entschiedenen Geste gibt Sardonios ihnen zu verstehen, in die Hocke zu gehen, um seine Anweisungen demütig entgegenzunehmen. Heftiges Geflatter oben im Gewölbe der Höhle. Also doch keinen guten Geister, nur Vögel, Störenfriede.
„Jetzt hört gut zu, denn ihr seid ausgewählt worden, dem Minos von Kreta einen großen Dienst zu erweisen.“
Sofort stellt sich bei ihnen in der Magengegend ein blödes Störgefühl ein: Großer Dienst? Das kennen sie. Immer wenn von „großem Dienst“ die Rede ist, gilt es Drecksarbeit zu erledigen. Immer. Zugleich nicken sie, als seien sie erfreut über diese Botschaft.
„Die Fremde, Europa, ihr wisst schon, muss verschwinden. Archaikos hat sich bei den alten Sehern kundig gemacht und die haben ihn gewarnt: Die Fremde sei eine große Gefahr für Kreta und für ihn. Und es müsse schnell gehen, bevor etwas Schlimmes auf der Insel geschieht. Die alten Götter erwarteten das von ihm. Und so habe Archaikos ihn, Sardonios, beauftragt, das Nötige umgehend in die Wege zu leiten. Ihr versteht?“
Sardonios ist völlig überrascht über seine Geistesgegenwart, wie einfach diese frei erfundenen Sätze ihm über die Lippen gesprungen kamen.
Nemetos und Thortys verstehen gar nichts. Das einzige, was ihnen aber sofort klar wird, ist, dass sie mal wieder die Drecksarbeit erledigen müssen.
Wie immer. Mist.