10 Aug

Europa – Mythos # 40

Zeus freut sich zu früh

Wie vom Donner gerührt starren alle im großen Innenhof auf den Minos von Kreta, der gerade seinen Richterspruch gefällt hat. Vor allem die betroffenen Frauen sind sprachlos. Mit so einem Urteil hatten sie nicht gerechnet. Auch die Grummelnden vom Ältestenrat sind überrascht: Einerseits freut es sie, dass die Macht der Männer Wirkung zeigt – schließlich werden zwei jungen Frauen ohne deren Einwilligung zwei gehorsamen Dienern zugesprochen – andererseits hätten sie sich natürlich gewünscht, dass die beiden Verdächtigen – die Hohepriesterin Chandaraissa und diese undurchsichtige Fremde, Europa – dem Stier zum Fraß vorgeführt würden. Schade. Dabei hatte das prächtige Tier eben noch so wohltuend furchterregend gebrüllt. Auch der Herr der Hofhaltung, Sardonios, weiß überhaupt nicht, was er von dieser Entscheidung halten soll: Hat ihn Archaikos durchschaut oder nicht? Er wird sich hüten müssen, jeder weitere Fehler könnte vielleicht sein Ende bedeuten. Denn die Sache mit seinen beiden Spionen ist doch wohl völlig daneben gegangen. Der Hass auf Chandaraissa und Europa aber wächst und wächst weiter.

Überlaut schallt da das plötzliche Flattern der drei Elstern vom Dachgesims herunter: Die drei Brüder sind zufrieden. Der Minos hat es den Frauen so richtig gezeigt. Zeus‘ Rachefeldzug gegen die selbstgefällige Europa und ihre Freundinnen zeigt erste Wirkung; zwar hat es Europa noch nicht direkt selbst erwischt, aber auch so wird sie mit gedemütigt. Im Davonfliegen senden sie den erschrocken nach oben Blickenden noch schrille, gellende Laute hinterher. Es klingt wie ätzende Schadenfreude. Als wollten sie sagen: Seht ihr allzu stolzen Frauen – Hochmut kommt vor dem Fall, schon immer!

Archaikos blickt stolz in die schweigende Runde, dann wendet er sich abrupt zum Gehen und lässt die Zuhörer und Betroffenen ratlos zurück. Er will Europa jetzt nicht in die Augen schauen. Und was sollte dieses Vogelgeschrei da oben? Nichts wie weg! Sarsa und Belursi, die beiden jungen Priesterinnen, die eben noch kichernd durch die Gänge tanzten und sich lüsterne Phantasien gönnten, sind fassungslos. Voller Verzweiflung wenden sie ihre Blicke zu Chandaraissa. Sie ist die einzige, die schon weiter denkt und auch schon einen Plan hat. So lächelt sie ihren beiden Priesterinnen freundlich zu, was sie aber überhaupt nicht verstehen können. Was gibt es denn in so einer Situation zu lächeln? Denn Nemetos und Thortys, denen zentnerweise die Steine vom Herzen gefallen sind, kommen schon mit stolz geschwellter Brust auf sie zu und spielen gleich die kleinen Herren vor ihnen: „Folgt uns zu unseren Häusern, wo ihr zukünftig leben werdet!“ Und in ihren Augen blitzt tierische Lüsternheit auf.

Dummerweise erlauben die zwei Helden ihren neuen Frauen am späten Nachmittag doch tatsächlich noch ein letztes Mal zum Tempel zu gehen, um ihre Kleider und sonstigen Habseligkeiten zu holen. Chandaraissa empfängt sie gleich in ihrer hellen Zelle und eröffnet den beiden auch ohne Umschweife ihren Plan:

„Wir müssen klug sein, dürfen auf keinen Fall erneut den Argwohn des Minos erregen. Deshalb wollen wir sie in Sicherheit wiegen. Lächeln, gehorchen. Das wird sie blind machen für unsere geheimen eigenen Pläne und Entscheidungen.“

Aber, hohe Frau und Herrin, wir werden in dieser Nacht auf ihrem Lager liegen müssen und…“

„Auch daran habe ich gedacht!“

Chandaraissa schmunzelt, und im Flüsterton erfahren Sarsa und Belursi, was sie tun sollen. Unter ihren Kleidern verstecken sie die kleinen Gefäße, die ihnen die Hohepriesterin zusteckt. Die jungen Frauen umarmen sich noch einmal, bevor sie hinter den klappernden Türen der Häuser ihrer Männer verschwinden. Wobei Häuser eher übertrieben ist: Es sind dünnwandige Hütten, fensterlos und mit einem Lüftungsloch im spitz zu laufenden Dach. Es riecht gar nicht gut da drinnen und statt eines Bettes gibt es nur eine alte Strohmatte, auf der sie ihr neuer Herr – Nemetos Sarsi und Thortys Belursi – erwartet. Die Dunkelheit im Raum kommt dem Plan der Frauen sehr entgegen.

Mein Gebieter“, säuselt die eine wie die andere zur gleichen Zeit, „um die Lust zu erhöhen, habe ich mir von der Alten – du weißt, wen ich meine – einen Liebestrank mischen lassen, den sollten wir gleich trinken. Dann wird das Stöhnen gar kein Ende nehmen.“

Die beiden Männer haben noch nie so eine Frau zu sich reden hören. Ihre Erregung erstickt gleich jeden Gedanken an Falschheit oder Verrat. Zitternd und geil führen sie hastig das kleine eigenartig duftende Gefäß an ihre Lippen und stürzen den Zaubertrank der Alten – wie sie gerne glauben –  gierig hinunter. Wie Feuer läuft das Getränk in ihrem Körper bergab. Um etwas Zeit zu gewinnen flüstern die neuen Gattinnen ihren Herren noch etwas ins Ohr: „Warte nur kurz, auch ich will davon trinken, umso größer wird die Lust für uns beide sein!“ Bald liegen die Männer lallend auf ihrem Lager. Tasten ins Leere. Wahnsinnsträume. Dumpfes Vergessen.

05 Jul

Europa – Mythos # 39

Zeus scheint die Rache an Europa zu gelingen

Die jungen Priesterinnen, Sarsa und Belursi, hatten die Oberpriesterin erfolglos in den vielen Treppenhäusern und langen Gängen des Palastes gesucht. Niemand wollte ihnen weiter helfen. Dann hatten sie sich von den wunderbaren Wandbemalungen ablenken lassen und vergaßen, was sie eigentlich zu finden hofften.

„Schau, dieser Stier. Ist er nicht prächtig und mächtig, ist er nicht….?“

Belursi lacht los. Auch sie ist völlig hingerissen. Die großen Augen des kraftvollen Stiers scheinen sie zu verfolgen, als sie staunend an ihm vorbei gehen. Ganz dicht bewegen sie sich an der bunten Wand entlang. Auch sie durchfluten Lustgefühle. Sie tut aber so, als wäre es nur Sarsa, die an so etwas denkt, als habe sie die Freundin ertappt bei ihren lüsternen Phantasien.

„Sarsa! Bist du wahnsinnig? Wenn dich die Hohepriesterin jetzt gehört hätte!“

Sarsa aber schwärmt einfach weiter. Die Muskeln unter der Haut des wilden Tieres sind so deutlich zu erkennen, dass sie meint, sie bewegten sich gerade. Ihr wird fast schwindlig vor Hingabe an dieses Bild. Genüsslich streicht sie mit der Hand über die kühle Wand. Ihr ist heiß und kalt zugleich dabei. Da öffnet sich am Ende des Flurs, dicht vor ihnen, die Doppeltür. Sardonios, der Herr der Hofhaltung tritt heraus, hinter ihm erscheint auch gleich Chandaraissa und Europa. Die beiden jungen Priesterinnen halten den Atem an. Sie fühlen sich ertappt, werden rot, verneigen sich schnell, um ihre Gesichter zu verbergen.

„Folgt uns bitte in den Innenhof. Der Minos wird gleich das Urteil verkünden!“

Schnell atmend und sich verstohlene Blicke schickend kommen Sarsa und Belursi wieder hoch. Chandaraissa hatte im Vorbeigehen beide leicht an der Schulter berührt, ohne etwas zu sagen. Erleichtert folgen sie den dreien vor ihnen. Wenn sie wüssten, was sie im Innenhof des Palastes erwartet, wären sie sicher jetzt nicht so kichernd und prustend los gelaufen, hätten sich eher versteckt, wären geflohen vielleicht sogar. Flüsternd kommt Sarsa noch einmal auf den Stier zu sprechen:

Belursi, schau mich bitte gleich nicht an, wenn wir auf das Urteil warten. Ich muss sonst wieder los lachen. Du bist aber auch immer so direkt und unverblümt, ehrlich!“

Belursi würde gerne erwidern, sie hat auch schon eine witzige Antwort parat. Aber sie hält sie zurück. Später, denkt sie und stellt sich voller Vorfreude schon das Gelächter vor, das dann über sie beide herein brechen wird.

Dann geht alles so schnell, dass es ihnen vorkommt, als wären sie in einen schlimmen Traum geraten. Alle hatten sich erhoben, als der Minos herein schreitet. Er lächelt. Ein gutes Zeichen? Und die drei Elstern oben sind auch wieder da, als gäbe es auch etwas für sie zu gewinnen. Die alten Ratgeber wieder in Lauerstellung. Sie warten auf den nächsten Fehler des Minos. Die Schadenfreude ist ihnen schon ins Gesicht geschrieben. Nemetos und Thortys ängstlich, mit großen Augen und hechelnd wie geschlagene Hunde, so stehen sie da, als würde gleich die Doppelaxt auf sie nieder fahren, sie eiskalt enthaupten. Dabei sind sie doch nur zwei Zeugen. Sardonios spielt weiter den scheinbar Unangefochtenen. Chandaraissa und Europa, die beiden Angeklagten, fühlen sich bereits als entschuldigt. Die Elstern oben am Rand des Dachgartens legen die Köpfe schief, sie wollen nichts verpassen, auf keinen Fall. Dann holt Archaikos tief Luft, die er sehr vernehmlich durch die Nasenflügel einsaugt, und spricht dann so:

„Ich habe, wie angekündigt, im Tempel die Szene durch probiert. Die Zeugen müssen sehr gute Ohren haben, fürwahr. Dafür sollen sie belohnt werden. Wahrscheinlich haben sie sich aber verhört. Wir werden es nie heraus bekommen, nachträglich. Deshalb halte ich folgenden Spruch für gerecht und richtig – die Göttin hat mir im Tempel diesen klugen Ratschlag gegeben – und wir werden ihr in aller Ehrfurcht Folge leisten:

Die beiden Zeugen – Nemetos und Thortys – werden die beiden jungen Priesterinnen Sarsa und Belursi als Gattinnen nehmen, um so den Unfrieden, der zwischen mir und den beiden Angeklagten durch die schlimme Anschuldigung entstanden ist, für immer aus der Welt zu schaffen. “

05 Jul

Europa – Mythos # 38

Die Stunden vor dem folgenschweren Urteil des Minos von Kreta

Archaikos wendet sich zum Gehen. Sardonios starrt weiter vor sich hin. Seine beiden Zeugen – Nemetos und Thortys – wissen nicht, was sie tun sollen. Gehen? Bleiben? Den Herrn der Hofhaltung, Abgaben und Sicherheit halten sie für sehr launisch und unberechenbar. Nie weiß man, was zu tun ist. Alles kann todbringend sein. Hinterher weiß man es, dann ist es aber zu spät. Jetzt steht Archaikos neben seinem Stellvertreter. Der fährt hoch, verbeugt sich erschrocken. Sie flüstern. Sardonios nickt, wendet sich den beiden Angeklagten zu. Der Minos zieht sich zurück.

„Folgt mir bitte!“

Chandaraissa traut ihren Ohren nicht. Was hat das zu bedeuten? Auch Europa staunt. Kam diese Bitte wirklich von Sardonios? Wie in einen Traum verirrt wenden sich die beiden Frauen der Tür zu, die der Herr der Hofhaltung ihnen öffnet. Das ist nicht der Gang zu den Zellen der Gefangenen. Das ist der Weg in die Gemächer des obersten Herrn der Kreter. Ein Falle? Ihre Hände streifen sich kurz. Als tauschten sie gegenseitige innere Kräfte aus. Ihre Verwirrung nimmt zu, auch die innere Anspannung. Ob das ihre letzten Stunden sind, die sie noch zu leben haben? Ein bloßer Aufschub, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen? Beide nehmen sie betend Zuflucht zur großen Göttin. Nur sie wird Rettung bringen können, nur sie.

Oben, an der Kante des Daches zum nun leeren Innenhof hin palavern die drei Elstern, als gäbe es das Urteil schon. Zeus, Hades und Poseidon finden die Pause völlig überflüssig. Kurzes Flügelflattern und Schwanzwedeln, dann fliegen sie hintereinander davon.

Unten – in den schattigen Gängen des Palastes – ist es auch still geworden. Der Minos hatte angeordnet, dass den beiden Frauen, Chandaraissa und Europa, kühles Quellwasser gereicht werden soll, dass sie sich auf bequemen Kissen im kleinen Gästesaal ausruhen können und nicht gestört werden dürfen. Die beiden verstehen diese Wende nicht. Aber sie genießen die Stille, das erfrischende Getränk und sich selbst.

„Das ist sicher die Folge des Eingreifens der Göttin. Oder was meinst du, Europa?“

Chandaraissa lacht endlich wieder, zärtlich streichelt sie Europas Hand, der Traum der letzten Tage scheint sie weiter verwöhnen zu wollen. Europa sieht es genauso wie ihre neue herrliche Freundin.

„Wer sonst? Übrigens, hast du auch die drei Elstern gesehen? Ich hatte das Gefühl, die schauen uns zu, als könnten sie verstehen, was da gerade vor sich geht. Komische Vögel. Ob sie Boten unserer Göttin sind? Oder waren sie nur zufällig da oben?“

„Ja, auch ich habe mir so meine Gedanken dazu gemacht.“

„Ich hatte solch eine große Angst um uns.“

„Kaum dass wir uns kennen, kann es doch einfach nicht schon zu Ende sein.“

„Zusammen werden wir bestimmt noch Wunderbares hier auf der Insel erreichen.“

„Bei so vielen Lauschern müssen wir nur sehr vorsichtig sein mit unseren Plänen.“

„Ich fühle mich so, als wäre ich endlich angekommen in meinem Leben, als wären die schlimmen Geschehnisse der Vergangenheit in meiner Heimat, mit meinem Vater und mit dem verlogenen Fremden nötig gewesen, um in deiner Nähe und mit dir neu geboren zu werden.“

Chandaraissa hat Tränen des Glücks in den Augen. Ihr Herz quillt über in leidenschaftlicher Zuneigung zu ihrer neuen Freundin, zu Europa, der jungen schwangeren Frau. Die drohende Gefahr dieses Morgens wendet sich gerade für beide in eine Glück versprechende Zukunft. Starke Gefühle bestärken sie jetzt wohlig und warm. Voller Zuversicht wollen sie nun das Urteil erwarten. Während dessen steht der Minos von Kreta im Tempel der Göttin an der Stelle, wo die beiden Zeugen durch einen Spalt zwischen Tempelraum und Vorbereitungskammer die Angeklagten belauscht haben wollen. Der hohe hehre Raum ist völlig leer, außer den Schwalben, die unter der Decke von Fenster zu Fenster fliegen und dabei ihre schrillen Stimmen hören lassen. Schmunzelnd wirft Archaikos einen Blick zu ihnen hinauf, dann begibt er sich in die kleine düstere Kammer, um von dort das Sprechen der beiden Wächter, die der mitgebracht hat, zu belauschen. Durch den Spalt kann er sie sehen, wie sie sprechen. Aber hören kann er kaum etwas. Das genügt ihm. Er atmet tief durch und weiß auch schon, was er für ein Urteil fällen wird. Zornig und schnell verlässt er den Tempel der Göttin.