Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 96
Europa weiß sich geschützt und gestützt von großer Kraft.
Die beiden Frauen müssen sich zuerst an den dämmrigen Ort gewöhnen, an den sie der Fremde so unwirsch geführt hat. Der Duft von Thymian liegt in der Luft. Chandaraissa und Europa atmen genüsslich ein. Die Hitze, der Nachmittag, die Stille – alles scheint in diesem Augenblick besonders stark auf sie zu wirken. Da ist keine Angst in ihnen. Wie kann das sein? Eben noch fühlten sie sich verfolgt, wüste Gestalten mit bösen Absichten auf ihren Fersen, von einer Sandwolke umtobt, und jetzt diese Stille in diesem Innenhof. Die beiden stehen eng umschlungen da im Halbdunkel und schauen voller Erwartung auf ihren unverhofften Retter. Jetzt haben sich die Augen an die neue Situation gewöhnt. Er ist jung, groß, hat lang gewelltes Haar, das ungeordnet um sein Gesicht wallt, seine großen blauen Augen schauen sie freundlich an, sein Mund, ein feines Lächeln andeutend, geschlossen. Sein Gewand verstaubt. Er wirkt auf die Priesterinnen eher wie ein Künstler, ein Sänger vielleicht, ein Tänzer. Schließlich wagt Europa zu fragen:
„Wer bist du und warum geschieht das gerade hier?“
Der gedrungene, alte Olivenbaum, hat sicher schon vieles erlebt in seinem langen Leben, aber was nun zu hören ist, scheint auch ihm nur wunderbar:
„Zur Zeit nenne ich mich Sosyniod (da erinnert sich Europa, dass sie ihn schon einmal gesehen hat) und bin unterwegs, den Unsinn von drei alten Männern zu verhindern, den die gerade aus Langeweile und Mutwillen ins Werk zu setzen versuchen. Denn eure Pläne scheinen mir viel schöner und wichtiger für die Menschen hier auf der Insel als der gewaltsame Unfrieden, den die da gerade über der Erde ausschütten.“
Dann ist es wieder still im Innenhof auf der Insel, auf der Zeus einst versteckt worden sein soll. So sagt man jedenfalls.
Aber der Klang seiner Stimme, seine kleinen Gesten beim Sprechen, sein freundlicher Blick, all das berührt Chandaraissa und Europa sehr.
„Wir danken dir, Fremder. Aber sag, kennst du auch die große Göttin, zu der wir beten und die uns Vorbild und Hoffnung ist?“
Europa hält den Atem an. Ob das jetzt die richtige Frage war, die da gerade Chandaraissa dem Fremden gestellt hatte? Der nickt nur. Und lächelt. Eine wohltuende Stille breitet sich aus. Die beiden Priesterinnen haben gerade das Gefühl, dass alles, was sie für richtig halten – ihre Geduld, ihre Lebensfreude, ihre Sanftmut, ihre Botschaft der Liebe und des Vertrauens – von diesem Fremden nur verstärkt wird in ihnen. Ein wunderbares Gefühl. Und beide träumen für einen kurzen Augenblick von dem Tanzfest, das sie gerade mit den jungen Priesterinnen vorbereiten: Da wird ihre Botschaft an alle, die es sehen und hören werden, weiter gereicht werden, wird Früchte tragen.
„Natürlich kenne ich sie. Wir sind sogar verwandt.“