Leseprobe – Historischer Roman II – Blatt 112
Es funktioniert noch immer, das Netzwerk der Römer
Julianus wird von wirren Träumen geplagt, seit einigen Nächten. Obwohl ihr heimlicher Verteidigungsplan Erfolg verspricht, scheinen ihm ihre Götter ferner und ferner. Die kalte Stille der Wintermonate in der Villa Marcellina hat nichts mehr von der Ruhe seiner Kindertage. Damals hatte ihm sein Vater morgens und abends vorgelesen. Aus der Anabasis des Xenephon, aus Ovids Metamorphosen und natürlich aus der Vergils Aeneis. Philemon und Baucis und Dido, die Amazonenkönigin – das waren die Figuren, mit denen er dann vor dem Einschlafen sprach.
„Hattest du denn keinen Zauber, um Aeneas davon abzuhalten, wieder weiter zu segeln?“ Dido lächelt müde.
„Hätte ich Erfolg gehabt, dann gäbe es kein Imperium Romanum, keinen stolzen Marcellus!“
„Das stimmt, Dido. Aber dafür hätte es vielleicht ein zauberhaftes Reich der Amazonen in ganz Afrika gegeben.“
Dido muss laut lachen.
„Du willst mir wohl schmeicheln, kleiner Römer!?“
Und jedes Mal bekam Julianus dabei Herzklopfen, er meinte dann sogar rot zu werden, so liebte er die Stimme der Königin. Niemals hätte er es aber gewagt, ihr seine Liebe zu gestehen, niemals.
Das ist jetzt lange her. Die Provinzen des Imperium Romanum zerfallen nach und nach. Auch hier in Gallien sind es nur noch Inseln, wo Latein gesprochen und geschrieben wird, wo Griechisch gelernt wird, wo den Göttern geopfert wird. Julianus weiß, dass sein Vater sich große Sorgen macht. Aber dass er nun die Villa so aufgerüstet hat, lässt ihn stolz sein auf den Vater. Er gibt nicht auf.
„Warum hast du die griechischen und römischen Historiker denn lesen müssen, Julianus?“, fragt er ihn oft. Und Julianus weiß die Antwort:
„Weil die Römer nach jeder Niederlage, nach jeder Krise wieder zurückkamen; aufgeben ist keine Option für einen Römer!“
Jetzt hört er in den Fluren Schritte, Stimmen. Der Vater scheint jemanden zu empfangen. Julianus steht auf, kleidet sich an und in den warmen Pelzmantel gehüllt verlässt er sein Zimmer. Als er die Tür zur Bibliothek leise öffnet, schauen die beiden Männer neugierig ihm entgegen:
„Ah, Julianus, schön, dass du dazu kommst. Unser treuer Freund aus Lutetia, Centurio Gajus Markus Fulcinius, bringt Wärme und Zuversicht in unsere Villa, wie immer.“
„Sei gegrüßt, Centurio.“ Julianus versucht ein Lächeln, aber die finstere Miene, mit der dieser nur stumm nickt, verheißt nichts Gutes. Philippus bringt gerade Brot und Wein. Man macht es sich auf den steinernen Liegen mit den weichen, vorgewärmten Kissen bequem. Marcellus, der Herr der Villa, hatte schon vor vielen Jahren die Idee gehabt, ähnlich wie im Speiseraum auch in der Bibliothek Liegen einzurichten, damit die
geistreiche Runde, die oft lange hier über große Themen der Götter und Menschen und die Vorväter disputieren wollte, auch ausharren konnte, oft bis weit in die Nacht hinein. Man isst von dem Brot, trinkt von dem Wein und wartet, dass der Gast das Wort ergreift. Die Stille in der Bibliothek lastet schwerer und schwerer auf den Wartenden. Endlich räuspert sich Gajus Markus.
„Lutetia ist ein stinkender Pfuhl. Wörtlich und im übertragenen Sinn.“
Julianus schaut zu seinem Lehrer Philippus. Wird das jetzt ein literarisches Symposium? Philippus lässt seine Mundwinkel fast unmerklich absinken, bewegt seinen alten weisen Kopf leicht hin und her, holt tief Luft und ergreift dann das Wort:
„Das ist eine düstere Eröffnung, Centurio. Uns sind beide Bedeutungen geläufig. Wann haben wir schon einmal etwas Gutes von dort berichtet bekommen?“
Marcellus pflichtet kopfnickend bei.
„Dennoch sind wir immer bestrebt, in Frieden mit dem Frankenfürsten zu leben.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Der Centurio macht eine lange Pause.
„Euer Wein ist wie immer köstlich, euer Brot wie immer frisch und duftend. Aber dennoch will es mir nicht schmecken.“
Wieder folgt ein langes Schweigen. Marcellus, Julianus und Philippus wissen, dass schlechte Nachrichten ins Haus stehen. Vielleicht wollen die frisch getauften Franken ihrem Gott römische Heiden opfern, um seine Gunst zu sichern. Vielleicht werden sie deshalb den geplanten Überfall schon bald ausführen und nicht erst im Frühling. Da erlöst sie ihr Gast aus ihren Gedanken.
„Den, den du einen Fürsten nennst, ist eher ein Tier, denn ein Mensch.“
Julianus hält den Atem an. Was für ein Bild! Chlothar, das Tier!
„Gaius Marcus, ich kenne dich als besonnenen Redner, als behutsamen Richter. Was lässt dich so über den Frankenfürsten sprechen?“
Marcellus kann ein leises Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. Dem alten Freund gegenüber will er höflich bleiben, aber er fühlt sich sehr unwohl dabei. Auch Julianus spürt die innere Anspannung seines Vaters.
„Nun, werter Marcellus, was ich neulich in Lutetia erleben musste, hätte ich gerne nicht erlebt. Chlothar hat Brunichild, die alte Burgunderkönigin,die seine Gefangene war, öffentlich foltern und vierteilen lassen.“
Das Schweigen, das nun folgt, will gar nicht enden. Den Männern scheint es so, als krieche die feindliche Kälte des Winters wie eine Verbündete dieses Tieres in diesen stillen Raum, um auch ihnen zu schaden.
„Die Fußbodenheizung braucht neue Nahrung“, flüstert Philippus. Alle schauen ihn erstaunt an, als erwachten sie gerade aus einem Albtraum.
„Ich werde veranlassen, dass Holz nachgelegt wird“, sagt er und geht.