10 Apr.

AbB – Neue Serie # 4 Wenn Wahrheit, dann in der Kunst

In der Kunst öffnet sich der Weg zur Wirklichkeit.

Manchmal.

Der Kunstgriff der banalen Wirklichkeitserklärung liegt in seiner monotonen Wiederholung. Der kleine Mensch ahmt die großen nach. Immer wieder. Schließlich signalisiert ihr Nicken: Du bist auf dem „richtigen Weg“. So wie die Vögel mit ihren Litaneien folgenschwere Resultate erzeugen, mausern sich die Erdlinge zu unbelehrbaren Besserwissern: Üben, üben, üben. Die Sinne tun dabei ihr Bestes. Lassen sich gerne betrügen. Ist so wohltuend.

Dem aber widersetzen sich die Künstler und Künstlerinnen.

Sie sorgen für Risse in der blendend bunten Wörterwand. Was aber wird dahinter sichtbar? Leere, unendliche Leere, Weite. Stille. Wie sollte man das denn in Worte fassen können, wie sollte man dem einen Sinn überstülpen können? Wie? Nur der Leierkastenmann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er ist ein entfernter Verwandter der Künstler und Künstlerinnen. Er tut zwar so, als schaffe er Musik, aber es sind nur Lochkarten, die sich nach seinem Schwungrad fortbewegen. Auf der Stelle.

In der Musik aber wohnt die Wirklichkeit wie in einem Sommerhaus: da gefällt es ihr über die Maßen, da wohnen Freunde, da lässt sich gut tafeln und wunderbar schlafen. Und in den Träumen wird dann wahr, was so sowie so nie war. In Siebenmeilenstiefeln stapft das Leben durch das Licht und findet im übermütigen Singen Zuversicht.

„Täusche ich mich?“ fragt sie ihn.

„Natürlich“, antwortet er.

So irren die Erdlinge von Museum zu Museum und verlassen es, als hätten sie eine geheime Offenbarung erlebt.

22 März

Archäologie des eigenen Lebens – AbB – Leseprobe # 76

Schürfungen, Reste, Nachträge.

Wenn der harte, metallene Speitel des Grübelns unbarmherzig über die oberste Schuttschicht unserer Lebenskreise kratzt, dann kommt meistens nichts Überraschendes zutage. Erst wenn man kleine, feine Sonden in tiefere Schichten hinablässt, könnte man fündig werden: Verkrustet, verformt, verrostet. Erinnerungsflöze, deren Reichtum leichtfertig übersehen wurde. Als Reste klein geredet, statt als Schätze geschätzt.

So viele Plätze auf dieser Welt haben ihn gesehen: Salamanca, Siena, vor der Union in Ann Arbor, am Strand von Negril, in Lower Waterford, am Fallen-Leaf-Lake, auf dem Cadillac Mountain, in Kyoto, Chandigarh und Toronto-Island, in Boulder und in Lander, Wyoming oder vor der Faneuil-Hall in Boston und neulich erst in Kopenhagen, auf Usedom und im Sarcow-Park, von Brasilia mit Blick auf die Pyrenäen ganz zu schweigen – oder Vezelay und Fontenay oder die drei Schwestern in der Provence oder im Lake District. Wenn nichts verloren geht, dann wird man auch dort noch fündig werden, wenn man wollte. An all diesen Orten herrscht gerade jetzt reges Treiben oder stilles Ruhen. Ob Vögel dort nisten oder Chipmonks bizarre Wettrennen veranstalten, ob Regentropfen von jungen Blättern fallen oder eine Bettlerin ihre Hand ausstreckt, niemand wird ihn dort vermissen, niemand. Lautlos blättert die Zeit in ihren Journalen und wirft lange Schatten auf all die Winzlinge, die jemals an solchen Orten auftauchten und wieder verschwanden. Wer nennt die Namen, kennt die Herkunft? Gleichgültig schmunzelt der Hauch, der gerade darüber weht, die Fragen weg. Wozu?

Es ist doch nur immer der Augenblick, der flüchtige, der die gesamte Fülle des Ortes dem Betrachter anbietet. Hat er es überhaupt bemerkt? Hat er seine Sinne darüber fahren lassen, ist er eingedrungen in die tiefer führenden Gänge selbstvergessener Schönheiten fliegender, flimmernder Staubteilchen? Und nimmt er es mit, bewahrt er es auf, kann er sich später noch erinnern? Aber an was wird er sich dann erinnern beim Erinnern daran?

Schon ist es vorbei. Der nächste Augenblick lässt schon nicht mehr an den vorhergehenden denken. Verflogen, zerstoben, weg.

Und wenn dann eben derselbe erneut Nachträge anschleppt, was werden sie beitragen können zu jenen üppigen Augenblicken? Einbildungen, Andeutungen, Wunschbilder. Irrtümer.

12 März

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 73

Geh zurück auf Anfang!

Eben erst in den einschlägigen Gazetten zu lesen: „Das James-Webb- Teleskop entdeckt Galaxien, die es nicht geben dürfte. Vielleicht müsse die Geschichte des Alls neu geschrieben werden, sagt Astronom Günther Hasinger.“ Als habe sich ein Vorhang gehoben und gäbe den Blick frei auf ein galaktisches Szenario, dessen Ausmaß, Alter und Eigenart mit unseren Instrumenten nicht erfassbar seien. Das Bild vom Vorhang sollte im Grunde aber klar machen, dass der homo sapiens lediglich ein neues Theaterstück auf die Bühne bringt – also eine Fiktion, weiter nichts.

Als Kinder des Anthropozäns ist uns von klein auf beigebracht worden, dass der homos sapiens auf einem guten Weg sei, Entstehung und Entfaltung des Weltalls zu durchschauen.

Beobachten, messen, auswerten, schlussfolgern. Nach diesem schlichten Muster traditioneller Wissenschaftsgläubigkeit wird seit „kurzem“ verfahren. Bei schwierigen Ergebnissen heißt dann stets die Devise:

Neue Versuchsanordnung, präzisere Messgeräte und experimentelle Varianzen ausprobieren. Dass aber vielleicht das gesamte wissenschaftliche Konzept untauglich sein könnte, kann natürlich nicht in Erwägung gezogen werden.

Die neuen Bilder des James-Webb-Teleskops allerdings scheinen den Gedanken nahe zu legen, dass die bisherigen Theorien obsolet zu sein scheinen. Und die Wissenschaftssprache muss plötzlich mehr und mehr in den Konjunktiv, den Potentialis und in Hypothesen-Jonglagen ausweichen. Von Exaktheit, Berechenbarkeit oder Stimmigkeit keine Spur mehr.

Im Grunde wird eigentlich jetzt nur deutlich, dass die apodiktischen Thesen vom Urknall auf Sand gebaut waren, ebenso die Zeit-Dimensionen der Dynamiken im Weltall. Schon die Wortwahl: Schwarze Löcher und Galaxien-Nebel lassen erkennen, dass die Horizonte der wissenschaftlichen Thesenbildungen sich doch viel zu sehr an den Maßen und Mustern des eigenen kleinen Planeten orientierten, denn an Offenheiten fremden galaktischen Gegebenheiten gegenüber.

Und wieder weicht der homo sapiens auf ein vertrautes Bild aus, das ihm das Unvorstellbare vorstellbar machen soll: Wir betrachten die Atemzüge der Welt und des Weltalls – Systole und Diastole. Ein solches Bild ist uns dann vorstellbar, es taugt aber leider nur für das Anthropozän mit seinen katastrophalen Auswirkungen auf die „Atemwege“ des eigenen Planeten, nicht aber für die Weiten und Zeiten des Weltalls.

Übrigens: Ähnliches lässt sich vielleicht auch über die Gegebenheiten in der Tiefsee vermuten – unser beschränktes Wissen scheint auch diesem Bereich völlig ahnungslos gegenüber zu stehen!