22 März

Archäologie des eigenen Lebens – AbB – Leseprobe # 76

Schürfungen, Reste, Nachträge.

Wenn der harte, metallene Speitel des Grübelns unbarmherzig über die oberste Schuttschicht unserer Lebenskreise kratzt, dann kommt meistens nichts Überraschendes zutage. Erst wenn man kleine, feine Sonden in tiefere Schichten hinablässt, könnte man fündig werden: Verkrustet, verformt, verrostet. Erinnerungsflöze, deren Reichtum leichtfertig übersehen wurde. Als Reste klein geredet, statt als Schätze geschätzt.

So viele Plätze auf dieser Welt haben ihn gesehen: Salamanca, Siena, vor der Union in Ann Arbor, am Strand von Negril, in Lower Waterford, am Fallen-Leaf-Lake, auf dem Cadillac Mountain, in Kyoto, Chandigarh und Toronto-Island, in Boulder und in Lander, Wyoming oder vor der Faneuil-Hall in Boston und neulich erst in Kopenhagen, auf Usedom und im Sarcow-Park, von Brasilia mit Blick auf die Pyrenäen ganz zu schweigen – oder Vezelay und Fontenay oder die drei Schwestern in der Provence oder im Lake District. Wenn nichts verloren geht, dann wird man auch dort noch fündig werden, wenn man wollte. An all diesen Orten herrscht gerade jetzt reges Treiben oder stilles Ruhen. Ob Vögel dort nisten oder Chipmonks bizarre Wettrennen veranstalten, ob Regentropfen von jungen Blättern fallen oder eine Bettlerin ihre Hand ausstreckt, niemand wird ihn dort vermissen, niemand. Lautlos blättert die Zeit in ihren Journalen und wirft lange Schatten auf all die Winzlinge, die jemals an solchen Orten auftauchten und wieder verschwanden. Wer nennt die Namen, kennt die Herkunft? Gleichgültig schmunzelt der Hauch, der gerade darüber weht, die Fragen weg. Wozu?

Es ist doch nur immer der Augenblick, der flüchtige, der die gesamte Fülle des Ortes dem Betrachter anbietet. Hat er es überhaupt bemerkt? Hat er seine Sinne darüber fahren lassen, ist er eingedrungen in die tiefer führenden Gänge selbstvergessener Schönheiten fliegender, flimmernder Staubteilchen? Und nimmt er es mit, bewahrt er es auf, kann er sich später noch erinnern? Aber an was wird er sich dann erinnern beim Erinnern daran?

Schon ist es vorbei. Der nächste Augenblick lässt schon nicht mehr an den vorhergehenden denken. Verflogen, zerstoben, weg.

Und wenn dann eben derselbe erneut Nachträge anschleppt, was werden sie beitragen können zu jenen üppigen Augenblicken? Einbildungen, Andeutungen, Wunschbilder. Irrtümer.

12 März

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 73

Geh zurück auf Anfang!

Eben erst in den einschlägigen Gazetten zu lesen: „Das James-Webb- Teleskop entdeckt Galaxien, die es nicht geben dürfte. Vielleicht müsse die Geschichte des Alls neu geschrieben werden, sagt Astronom Günther Hasinger.“ Als habe sich ein Vorhang gehoben und gäbe den Blick frei auf ein galaktisches Szenario, dessen Ausmaß, Alter und Eigenart mit unseren Instrumenten nicht erfassbar seien. Das Bild vom Vorhang sollte im Grunde aber klar machen, dass der homo sapiens lediglich ein neues Theaterstück auf die Bühne bringt – also eine Fiktion, weiter nichts.

Als Kinder des Anthropozäns ist uns von klein auf beigebracht worden, dass der homos sapiens auf einem guten Weg sei, Entstehung und Entfaltung des Weltalls zu durchschauen.

Beobachten, messen, auswerten, schlussfolgern. Nach diesem schlichten Muster traditioneller Wissenschaftsgläubigkeit wird seit „kurzem“ verfahren. Bei schwierigen Ergebnissen heißt dann stets die Devise:

Neue Versuchsanordnung, präzisere Messgeräte und experimentelle Varianzen ausprobieren. Dass aber vielleicht das gesamte wissenschaftliche Konzept untauglich sein könnte, kann natürlich nicht in Erwägung gezogen werden.

Die neuen Bilder des James-Webb-Teleskops allerdings scheinen den Gedanken nahe zu legen, dass die bisherigen Theorien obsolet zu sein scheinen. Und die Wissenschaftssprache muss plötzlich mehr und mehr in den Konjunktiv, den Potentialis und in Hypothesen-Jonglagen ausweichen. Von Exaktheit, Berechenbarkeit oder Stimmigkeit keine Spur mehr.

Im Grunde wird eigentlich jetzt nur deutlich, dass die apodiktischen Thesen vom Urknall auf Sand gebaut waren, ebenso die Zeit-Dimensionen der Dynamiken im Weltall. Schon die Wortwahl: Schwarze Löcher und Galaxien-Nebel lassen erkennen, dass die Horizonte der wissenschaftlichen Thesenbildungen sich doch viel zu sehr an den Maßen und Mustern des eigenen kleinen Planeten orientierten, denn an Offenheiten fremden galaktischen Gegebenheiten gegenüber.

Und wieder weicht der homo sapiens auf ein vertrautes Bild aus, das ihm das Unvorstellbare vorstellbar machen soll: Wir betrachten die Atemzüge der Welt und des Weltalls – Systole und Diastole. Ein solches Bild ist uns dann vorstellbar, es taugt aber leider nur für das Anthropozän mit seinen katastrophalen Auswirkungen auf die „Atemwege“ des eigenen Planeten, nicht aber für die Weiten und Zeiten des Weltalls.

Übrigens: Ähnliches lässt sich vielleicht auch über die Gegebenheiten in der Tiefsee vermuten – unser beschränktes Wissen scheint auch diesem Bereich völlig ahnungslos gegenüber zu stehen!

04 März

Leseprobe aus den autobiographischen Blättern

Lordum, der Archäologe seines eigenen Lebens.

Die Stille tut gut. Sie verbündet sich mit der des Alls. Sie umarmt alles und jeden. Auch ihn, Lordum.

Was für einen langen Weg ist er gegangen! Wie einsam und ängstlich war er doch zu Beginn und völlig sprachlos!

Da schlug ihm die Stille in seinem kleinen Dachzimmer in der Jägerstraße schon ziemlich auf den Magen. Und unterm Bett lauerten hämisch die Dämonen. Das Schöne der Stille war dem Kind längst abhanden gekommen.

Und wie still ist es nun um ihn geworden, als alter Mann: So vielen Menschen ist er begegnet, so viele hat er so lange unterrichtet, mit so vielen hat er so oft Theaterstücke eingeübt, so lange und so viele. Was ist daraus geworden, Was ist aus diesen Menschen geworden, was für Bilder und Erinnerungen tragen sie noch von ihm in sich?

Freunde? Nein, keine.

Gute Bekannte? Ja, einige.

Jetzt? Die traditionellen Begegnungsformen haben sich klamm heimlich verabschiedet: Wer schreibt denn heute noch Briefe? So viele hat er oft und gerne geschrieben. Ob die noch irgendwo herum liegen, vielleicht sogar noch einmal gelesen werden? Wohl kaum.

Im Briefkasten nur noch Werbung, die abonnierten Zeitungen und Rechnungen.

Seitenweise schwarz gerahmte Anzeigen. Namen, Zahlen, Orte. Stille. Zeichen für das lautlose Verschwinden der Gestorbenen. Da, wo sie eben noch waren, sind sie nicht mehr. Die Leere füllt sich wieder mit neuem Leben. Am Ende zunehmende Stille, am Anfang zunehmendes Geschrei.

Und sein blog? Den füllt er Woche für Woche mit neuen Texten. Ob die gelesen werden, weiß er nicht.

Aber endlich hat er die Zeit und die Ruhe, Geschichten, Romane und philosophische Texte zu schreiben. Endlich. In erster Linie für sich selbst, für sein Selbstgespräch, für seine Selbstvergewisserung. Lautlos. Geheimnisvoll werden sie im Innern nach oben gespült, mischen sich ein ohne Voranmeldung, pausenlos. Wunderbar.

Und viel Freude bereitet ihm das Erfinden von Geschichten für die Enkelkinder: Die erste Serie – ca. 250 Geschichten – schlummern in den Dateien. Die zweite Serie – im Moment ca. 120 Geschichten – gibt es nun auch als Audio-Dateien. Wer hätte das gedacht. Laura hat ihm beigebracht,

wie man das macht. So verschickt er nun jede Woche vier Geschichten an die vier größeren Enkelkinder. Die jüngeren – Carlotta, Clara, Zoe und Johanna – müssen erst noch zur Sprache finden, dann wird er auch für sie Geschichten erfinden. Phantastische Spaziergänge, vielfarbig und voller Wunder und Geheimnisse, Woche für Woche.

Die Sprache hat ihren Dienst getan, die Sprache kann gehen. Er hat sie schätzen gelernt, hat sie sich auf der Zunge zergehen lassen, hat mit ihr gespielt und sie am Ende aber auch durchschaut. Die phantastische Lügnerin, sie! Seit der homo sapiens sie erfunden hat, ist viel Zeit vergangen, vieles vergessen worden. Und die Sprache hat sich scheinbar sogar selbstständig gemacht. Sie ist ihm eine Wirklichkeit geworden, obwohl sie doch nur eine Vorstellung, eine Einbildung bleibt.

Hier in der Kommende lebt er wie in einem kleinen Dorf. Morgens gehen die jungen Leute zur Arbeit und die Kinder zur Schule, dann wird es still im Innenhof und im altehrwürdigen Park. Abends fällt aus vielen Fenstern Licht auf den Rasen. Man sieht sie wenig, die Menschen. Die Alten sterben nach und nach…Die Elstern, Eichelhäher, Eichhörnchen und Meisen fliegen lautlos zwischen alten Bäumen hin und her und der eine oder die andere kehrt bereits repariert aus der Kardiologie zurück, als wäre nichts gewesen.

Und alle eingebunden in ihre täglichen Rituale, Gewohnheiten und Glaubenssätze. Wie die Jesiden, die Kurden, die Mennoniten, Mormonen, Angelikanen, Katholiken, Protestanten, Moslems, Hindus, Buddhisten. Allen gemein das erbärmliche, patriarchalische Grundmuster, dem sich zu lange schon als Co die Frauen unterwerfen. Gewalt und Erniedrigung nehmen sie schweigend in ihren Familien hinter verschlossenen Türen hin wie die Abfolge von Tag und Nacht.

Standard ist der Begriff Melancholie. Aber er trifft es überhaupt nicht. Er transportiert lediglich ein kulturelles Erbe, das sich im Wiederholen des Begriffs gemütlich einrichtete. Etwas wehleidig. Als wären es Gesetze der Natur, dabei spiegelt die Melancholie lediglich die Glasur über der kulturellen Evolution wider, die darunter weiter unerlöst vor sich hin wabert.

Viel eher träfe es die Wendung: eine leise, wärmende Freude umgab ihn, nahm ihn an die Hand, er ließ sich gerne von ihre führen. Still. Langsam.