04 Nov.

Autobiographische Blätter – Erneute Annäherungen 2021 – Leseprobe im November

Aus der Fibel für Anfänger im bröckligen Treibsand zahlloser Sprachhaufen

Was wären wir nur ohne Tagträumerei?

Ist es nicht eigenartig, dass wir nach jedem Kino-Besuch gerne zugeben, dass wir völlig in die Geschichte eingetaucht waren, mit den Protagonisten fieberten, heftiges Herzklopfen betroffen in uns selbst bemerkten, wenn die Identifikationsfigur (Herzdame/Herzbube) die Karten auf den Tisch legte? Als wäre die Realitätsebene drinnen im Kino und draußen in der Tiefgarage dieselbe? Und ist es nicht eigenartig, wenn jemand nun von seinen Tagträumen erzählt als einer Zeitreise in benachbarte Realitätsebenen (so er/sie jemanden hat, der/die zuhört), dass mitleidiges Lächeln hochkommt ob solcher naiver Zeitverschwendung und Irrfahrt? (Die Erfahrung im Kino bleibt dabei dann brav im Keller).

Haben die Erdlinge nicht vor einiger Zeit erst die Sprache erfunden, mit deren Hilfe sie sich das Chaos Welt zu ordnen, zu katalogisieren begannen? Und ist es nicht mehr als eine bloße Gewohnheit, mit Hilfe dieser Zeichen-Sprache das Wirkliche für das zu halten, was die Übereinkunft der sprachlichen Begriffe dafür anbietet: Das wirklich Wirkliche?

Was wären wir nur ohne unsere Tagträume? Um dieses wirklich Wirkliche durch eine eigene Wirklichkeit zu ergänzen, in Frage zu stellen, zu überbieten? Gefangene in einem Sprachpuzzle, das zwar ohne Grenzen zu sein scheint, das aber eben auch nur eine Erfindung für etwas ist, das wir Wirklichkeit uns angewöhnt haben zu nennen.

Erst in den Exkursionen in unsere Tagträume finden wir den vorläufigen Halt für scheinbare Gewissheiten, die dann in unseren Gefühlen baden gehen….

Schon Lukrez machte den bescheidenen Vorschlag – um nicht am Zufall zu verzweifeln – alle zufälligen Veränderungen kleinsten Karambolagen der Atome im Chaos des Kosmos (wobei Kosmos schon ein Begriff ist, der scheinbar ein großes Ganzes zu beschreiben scheint – zumindest in der Sprache) zuzuschreiben; diese kleinsten Veränderungen führen dann zu zufälligen neuen Bahnen, auf denen sich dann die Atome neu begegnen, jetzt aber in einer neuen Richtung hin zu neuen Berührungen – unvorhersehbar, aber nur wieder überraschend und wunderschön…

06 Aug.

AbB – Autobiographisches – Neue Versuche # 4

Erneute Annäherungen entlang der Lektüre von „DIE WAHRHEIT ÜBER EVA“.

Seit einiger Zeit liest der Floh in diesem Buch, das ihm Sybil und Martin zum Geburtstag geschenkt hatten. Es fällt auf fruchtbaren Boden, denn die Ungleichheit von Frauen und Männern ist auch sein großes Thema – nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie.

Dass dabei die Genesis als das vorgeführt wird, was sie ist: nämlich nicht mehr und nicht weniger als das Weiterfortschreiben eines alten Narrativs aus Mesopotamien. Somit bestätigt sich für den Floh der Gedanke, dass Europa sich fluten ließ von einer Bilderwelt, die ihr schon immer fremd war. Das ist allerdings in den letzten zweitausend Jahren gründlich in Vergessenheit geraten – die Sprache und das Christentum haben da ganze Arbeit geleistet.

Sein zweiter historischer Roman und die Texte, die er in seinem blog „Europa – Fortsetzung der alten Geschichte“ erfindet, spiegeln dieses Gegensteuern qua verwandter, aber eben abgewandelter Bilder wider. Das erfrischt ihn und lässt den Atem leichter gehen. Zu lange schon lastet auf der Brust des alten Europas der Alb, dass Männer, dass Gewalt und Leid die richtige Melange für jeden Lebensentwurf eines selbstbewussten Europäers zu sein habe. Lebensfreude, Solidarität der Geschlechter und Sinnengenuss kommen darin nur vor als materielle Belohnungssysteme: kalt, leblos und feindlich. Und so versklavte das Eigentum – auch eine Erfindung Mesopotamiens – nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer, wenn auch als scheinbare Gewinner im falschen Leben des homo sapiens.

Die Tage seit der schlimmen Flut im Ahrtal und der Nachbarschaft, in der fast 200 Menschen ertranken, zeigen nun überdeutlich dem satten Bundesbürger, dass Sachwerte kein sicherer Boden für ein gelingendes Leben sein können, sondern nur die solidarische und gefühlvolle Hilfe aller für alle in dieser Not.

Es bedarf wohl immer erst großer Katastrophen, um dem homo sapiens ungeschminkt vor Augen zu führen, dass er sich seit langem schon auf einem versteinerten Holzweg befindet – muss man wirklich erst wieder an die Generationen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg oder nach dem Dreissigjährigen Krieg, dem Siebenjährigen Krieg
und den Napoleonischen Kriegen erinnern? – , um zu verstehen, dass nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer und inzwischen der gesamte ächzende Globus diejenigen sind, die eine Rechnung bezahlen müssen, die sie selbst, von wissenschaftlichem Furor begleitet, inszenierten – bis heute?

Der Gott der Neuzeit – wissenschaftliche Rationalität als d i e Zauberformel für scheinbare Objektivität, die es in Wirklichkeit aber gar nicht gibt – treibt seine Geschöpfe vor sich her, die wie Lemminge dem Abgrund entgegen rasen.

Gerne schreit er sein kleines „Halt!“ mit seinen Texten und seinem eigenen Lebensentwurf in die Welt. Es ist sein kleiner Beitrag – wie ein Kieselstein möge er Wellen ziehen – und viele ähnliche Kieselsteine bringen vielleicht dann auch ein größeres „Halt!“ in diese um Einhalt flehende Welt…

14 Juni

AbB Erneute Annäherungen # 3

Wider die Natur schon so lange…

Ist es nicht eigenartig, wie hartnäckig wir Europäer an einer Denk- und Glaubensart festhalten, die nicht nur der eigenen ehemaligen religiösen und alltäglichen Welt widersprach, sondern auch dem natürlichen Gang von Werden und Vergehen zuwider läuft?

In der eigenen Biographie wird dem sich Erinnernden deutlich, wie sehr er von Anfang an misstrauisch dem schnellen Zugriff im logischen Denkgebäude für das Richtige und „offensichtlich“ Falsche gegenüber stand. Es blieb ihm lange ein ungeklärtes Geheimnis, wie sicher sich die Erwachsenen um ihn herum in ihrer Begriffswelt und den dazu gehörigen Schlussfolgerungen bewegten – immer mit einem Mienenspiel, das jedem Zweifler unmissverständlich zu verstehen gab: „Stell dich nicht so an, ist doch ganz einfach, sprich es mehrfach nach und schon stellt sich Verstehen ein, wie von selbst, logisch!“

Wie war es möglich, dass man den luftigen Bildern von einem unsichtbaren Jenseits mit einem unsichtbaren Gott (dreifach!) zu folgen bereit war, nachdem das Diesseits als Jammertal, Sündenpfuhl und Irrweg schlecht gemacht worden war?

Gut, schlecht entlohnte Legionäre, enttäuschte Veteranen und die vielen Sklaven und ihre Familien waren vielleicht bereit, an solch eine „späte Rettung und Belohnung im Jenseits“ glauben zu wollen, aber gleichzeitig die Natur als Bedrohung und Fremde zu verhöhnen, widerspricht doch dem Offensichtlichen.

Kleiner historischer Exkurs und Deutungsangebot:

Julian Apostata (360 -363) versuchte in kühnem Zugriff, dieses einseitige und misanthrope Glaubensangebot der jungen Christen und ihrer alten Bischöfe zurückzupfeifen: Es sollten wieder alle allen opfern dürfen, statt nur einem, der keine Götter neben sich duldete! Der Vielfalt in der Natur sollte wieder die Vielfalt der göttlichen Bilder entsprechen, mit der diese natürliche Vielfalt naturnah abgebildet schien. Aber das Glück war nicht auf seiner Seite. Er fiel bei einem Feldzug im Osten des römischen Reiches.

Aber schon zwei Jahre später – 365 – gab die Natur eine starke Antwort: die afrikanische Platte schob sich ruckartig weiter unter die eurasische und ein noch nie da gewesener Tsunami brauste im Mittelmeer von Westen nach Osten und riss tausende von Menschen in den Tod. Als wollte die Natur ein Zeichen geben: Ihr Erdlinge, ihr winzigen, verleugnet nicht eure Natur!

Zeit und Raum sind die Eckdaten von Werden und Vergehen. Darin hängt alles mit allem zusammen und nichts geht verloren, ja, im Gegenteil, es kehrt verwandelt zurück in neuer Form und überraschender Existenz. Das ist auch das Narrativ der östlichen Denker seit Jahrtausenden. Gerade erlebt auch der Osten so etwas wie eine Überfremdung mit einem Bildergebäude, das dem natürlichen und gewordenen Sein so sehr widerspricht. Es ist zwar nicht die Münchhausen-Geschichte vom „ewigen Leben nach dem Tod“ (Bethlehem lässt grüßen!), dafür aber die dialektische Täuschungs-Geschichte vom „materiellen Gewinn für alle beim gerechten Verteilen auf alle (Trier lässt grüßen!)“ – der Katholizismus hat seinen Ursprung im Osten; die Bilder sind fremde Bilder, die als die eigenen gebetsmühlenartig herbei gebetet werden. Der chinesische Sozialismus hat seinen Ursprung im Westen; die Bilder sind fremde Bilder, die als die eigenen gebetsmühlenartig herbei geredet werden. So taumelte man in die fremde Bilderwelt.

In beiden Irrgärten lässt sich gut träumen, andere abzuschlachten und eigene Leute mächtig werden zu lassen. Aber Frieden mit sich und der eigenen Natur lässt sich so nicht finden. Die Todesangst in der Pandemie lässt solche Irrgärten wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen. Kopfschüttelnd schaut die Natur diesem üblen Schauspiel zu. Dann zeigt sie den Probanden die gelb-rote Karte.

Und langsam, ganz langsam wagt sich der Erschrockene ans Überdenken altvertrauter Muster. So öffnet sich eine alte Tür nun wie neu. Vielleicht.