Leseprobe – Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 41
Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn
S. 333 – „Meine Geschwister und ich schüttelten nur den Kopf, wenn wir das Wort stabilisieren hörten, mussten nicht einmal aussprechen, was wir dachten: Dass er genau das immer befürchtet hatte, dass er nicht auf diesem niedrigen Niveau dahin vegitieren wollte, eher sollten wir den Stecker ziehen.“
(Dem alten Floh geht es genauso: sein treuester Bundesgenosse ein Leben lang, sein Körper, beginnt langsam müde zu werden. Zusammen mit Salome will er bald möglichst eine Patienten-Verfügung verschriftlichen, damit genau das nicht passiert: Stabilisierungsmaßnahmen um ihrer selbst willen, nicht aber zum Wohle des alten Flohs, der in solchen medizinischen Maßnahmen nicht das sehen kann, was sie wohlwollend meinen: Das Beste für den Patienten. Nicht nur will er den Kindern zur Bürde werden, nein, er möchte auch selber solches nicht erleben müssen.)
336 – „Ein Vater schafft seinen Sohn aus seinem Fleisch und Blut und aus seinem Geist und prägt ihn dann mit seinen Vorstellungen und Träumen, auch mit seinen Brutalitäten und Misserfolgen. Doch der Sohn, auch wenn er von seinem Vater ist, kann nicht alles über seinen Vater wissen, weil der Vater vor ihm da ist. Immer ist der Vater schon viel länger auf der Welt als der Sohn, das kann der Sohn nie aufholen, er wird nie alles wissen können. Kein Wunder, dass die Griechen glaubten, nur wenige Söhne könnten es mit den Vätern aufnehmen. Die meisten sind ihnen unterlegen, nur sehr wenige übertreffen sie. Es geht nicht um Wert, sondern um Kenntnis. Der Vater kennt den Sohn, aber der Sohn wird den Vater nie restlos kennen.“
(Damit kann der alte Floh wenig anfangen: Zumal sein Vater den zweiten Sohn kaum gekannt hat, genau wie der Sohn den Vater nicht. Und wie hat der ersten Sohn, Alfred, sein Halbbruder, unter diesem Vater gelitten! Sie haben gewissermaßen beide verpasst sich gegenseitig kennenzulernen. Wie wird es da seinen Söhnen gehen? Was wissen und was denken die beiden, David und Jonathan, von ihm? Sicher haben sie mehr, viel mehr erlebt und erfahren mit ihrem Vater als der mit seinem Vater. Aber die Wahrnehmungen bleiben natürlich Wahrnehmungen. Und je öfter bestimmte Geschichten erzählt werden, umso mehr werden sie geglaubt. Das ist das Geheimnis von jedem Narrativ – privat wie politisch. Und damit seine Kinder wenigstens kleine Korrekturen ihrer eigenen Vater-Wahrnehmungen vornehmen können (so sie wollen), liefert er ihnen mit diesen autobiographischen Blättern und den vielen Tagebüchern zumindest Material, das dann aber im Lesen wieder zu einem Teil ihrer eigenen Wahrnehmungen werden wird.)
S. 338 – „“Hatte Daddy denn nicht immer gesagt: Zieht einfach den Stecker raus, ich will nicht in einem Pflegeheim enden und im Rollstuhl herumgegeschoben werden?“