14 Jun

Leseprobe – Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 41

Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

S. 333 – „Meine Geschwister und ich schüttelten nur den Kopf, wenn wir das Wort stabilisieren hörten, mussten nicht einmal aussprechen, was wir dachten: Dass er genau das immer befürchtet hatte, dass er nicht auf diesem niedrigen Niveau dahin vegitieren wollte, eher sollten wir den Stecker ziehen.“

(Dem alten Floh geht es genauso: sein treuester Bundesgenosse ein Leben lang, sein Körper, beginnt langsam müde zu werden. Zusammen mit Salome will er bald möglichst eine Patienten-Verfügung verschriftlichen, damit genau das nicht passiert: Stabilisierungsmaßnahmen um ihrer selbst willen, nicht aber zum Wohle des alten Flohs, der in solchen medizinischen Maßnahmen nicht das sehen kann, was sie wohlwollend meinen: Das Beste für den Patienten. Nicht nur will er den Kindern zur Bürde werden, nein, er möchte auch selber solches nicht erleben müssen.)

336 – „Ein Vater schafft seinen Sohn aus seinem Fleisch und Blut und aus seinem Geist und prägt ihn dann mit seinen Vorstellungen und Träumen, auch mit seinen Brutalitäten und Misserfolgen. Doch der Sohn, auch wenn er von seinem Vater ist, kann nicht alles über seinen Vater wissen, weil der Vater vor ihm da ist. Immer ist der Vater schon viel länger auf der Welt als der Sohn, das kann der Sohn nie aufholen, er wird nie alles wissen können. Kein Wunder, dass die Griechen glaubten, nur wenige Söhne könnten es mit den Vätern aufnehmen. Die meisten sind ihnen unterlegen, nur sehr wenige übertreffen sie. Es geht nicht um Wert, sondern um Kenntnis. Der Vater kennt den Sohn, aber der Sohn wird den Vater nie restlos kennen.“

(Damit kann der alte Floh wenig anfangen: Zumal sein Vater den zweiten Sohn kaum gekannt hat, genau wie der Sohn den Vater nicht. Und wie hat der ersten Sohn, Alfred, sein Halbbruder, unter diesem Vater gelitten! Sie haben gewissermaßen beide verpasst sich gegenseitig kennenzulernen. Wie wird es da seinen Söhnen gehen? Was wissen und was denken die beiden, David und Jonathan, von ihm? Sicher haben sie mehr, viel mehr erlebt und erfahren mit ihrem Vater als der mit seinem Vater. Aber die Wahrnehmungen bleiben natürlich Wahrnehmungen. Und je öfter bestimmte Geschichten erzählt werden, umso mehr werden sie geglaubt. Das ist das Geheimnis von jedem Narrativ – privat wie politisch. Und damit seine Kinder wenigstens kleine Korrekturen ihrer eigenen Vater-Wahrnehmungen vornehmen können (so sie wollen), liefert er ihnen mit diesen autobiographischen Blättern und den vielen Tagebüchern zumindest Material, das dann aber im Lesen wieder zu einem Teil ihrer eigenen Wahrnehmungen werden wird.)

S. 338 – „“Hatte Daddy denn nicht immer gesagt: Zieht einfach den Stecker raus, ich will nicht in einem Pflegeheim enden und im Rollstuhl herumgegeschoben werden?“

30 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 38

Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn # 38

S. 315 – „Wieder ging mir durch den Kopf, was Brendan an dem Tag gesagt hatte. Vielleicht könnte man ja sagen, dass dies eine Geschichte über das Zuhören ist. Darüber, wie die eigene Sichtweise die Wahrnehmung beeinflusst. Tatsächlich ist es doch so, dass Polyphem von vornherein nur hört, was er hören will.

(Da fällt dem alten Floh natürlich auf Anhieb auch noch Mephistoteles ein, der bei seinem Vertrag mit Faust auch nicht richtig zuhört; er ist ja viel zu aufgeregt, weil er glaubt, den Fisch im Netz zu haben. Was nun den kleinen Floh betrifft – natürlich wie immer heraufbeschworen in den wohlwollenden Bildern des alten Flohs – so ist er sich nicht so sicher, ob das auch auf ihn zutrifft. Denn eigentlich wollte er gar nicht nur das hören, was er hören will; er wollte eigentlich gar nichts hören. Denn jedes Mal stellte sich beim „Zuhören“ das mulmige Gefühl ein, er versteht es nicht, sollte es aber wohl verstehen können. Somit bastelte er sich ein Hörverfahren, dass beim scheinbaren Zuhören einfach auf Durchzug schaltete – und zwar so effektiv, dass er tatsächlich nichts mehr erinnerte, danach. Das wüste Selbsttor, das er dabei jedes Mal schoss, war ihm natürlich gar nicht klar. Und eigenartiger Weise kam er sogar durch mit dieser Unsinns-Methode. Erst viel, viel später – zuerst beim Lesen, wo er nämlich auch nicht sich selber zuhörte von Anfang an, so dass er hinterher überhaupt keine Ahnung hatte von dem, was er gerade gelesen hatte – bringt er sich im Selbststudium und in kleinen Schritten das Zuhören und Antworten bei; aber auch hier ist wie bei all seinen geistigen Klimmzügen die Intuition der Transmissionsriemen, der ihm brauchbare Ergebnisse ermöglicht, von denen die anderen dann meinen, er habe sie durch analytische Denkschritte herbeigeführt. Darüber hinaus hatte er das große Glück, dass Salome in sein Leben trat und mit ihrer Stimme und ihren Geschichten die Wende in seinem Leben ermöglichte.

Grundsätzlich hören und sehen wir Erdlinge wie selbstverständlich immer nur das, was wir hören und sehen wollen. Dazu ist die individuelle Sehweise per definitionem basal: weil jedes Gehirn eingeschlossen bleibt im eigenen Bilderwald, sind alle Verallgemeinerungen n a t ü r l i c h e r –

w e i s e willkürlich und unzutreffend. Mit Hilfe der Sprache – die aber auch im selben Bilderwald geerdet ist – versuchen sie dann eine begehbare Brücke zu schlagen zum Bilderwald des Gegenüber. Es bleibt aber der Satz:

Die Grundsituation jeglicher Kommunikation ist das Missverständnis.

Das versucht der alte Floh immer vorauseilend mitzudenken, um die Annäherung möglichst friedfertig und günstig zu gestalten. Und dass jemand wie Sokrates deshalb lieber die Frage in den Mittelpunkt stellt, als die Antwort, zeigt doch nur, wie klug dieser Mann ist –

Ich weiß, dass ich (es) nicht weiß.

So ist das Leben eine endlose und zauberhafte Reise zu sich selbst und den anderen. Die einzig sichere Ankunft dabei ist nur der eigene Tod.)

22 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 36

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 36

S. 272 – „Diese ständige Konkurrenz zwischen Vätern und Söhnen, diese ewigen Geschichten von Erfolg und Misserfolg.“

(Der Floh wollte seinem Vater wohl vorführen, dass es jenseits von materiellem Erfolg auch einen ideellen Erfolg geben kann. Wie soll er sich sonst erklären, dass es ihm stets einerlei war, wie viel er verdiente. Immer hatte er das Gefühl, dass es bei weitem ausreichte. Er brauchte nie „viel“. Es reichte für die Familie. Auch im Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen hatte der Floh immer das Gefühl, dass deren Unzufriedenheit eher peinlich war: Waren sie doch alle abgesichert und versorgt. Aber seine Zunft kam ihm sehr oft vor wie eine Rotte von Erbsenzählern, die mit der Abhängigkeit, in der sie stehen, einfach nicht gelassen umgehen konnten. Also musste immer der Arbeitgeber – das Land – herhalten für schlechte Laune.

Der Floh sah sich nicht als Konkurrent. Sein Ehrgeiz richtete sich vorrangig auf die Lernerfolge der Schülerinnen und Schüler. Deren Wertschätzung war ihm wichtig. Und die bekam er durch sein Engagement. Punkt. Und das ist unbezahlbar.

Jetzt hofft er als der alte Floh natürlich, dass seine eigenen Kinder diesen alten Konkurrenz-Schuh einfach nicht anziehen, sondern wissen, dass ihr Vater froh ist, wenn ihnen ihre Arbeit Freude bereitet. Zahlen dahinter sollten immer bloß sekundär bleiben.

Seine eigene Karriere kommt ihm sowieso vor wie eine sehr zufällige und von ihm nicht wirklich betriebene Veränderung, die sich nach und nach und einfach so ergab. Zufälle spielten dabei wohl die Hauptrolle. Er hat viel Glück gehabt. Die Menschen, die ihn gefördert haben, müssen ihn für fähig gehalten haben. Er selbst war lange viel zu stolz, sich um seine Karriere zu kümmern. Meint er zumindest heute. Aber auch das ist – wie alle Geschichten – ein Narrativ, wie man heute so zu sagen pflegt, das sich fleißig weiter entwickelt, sich gerne verselbständigt und eigensinnige Wege hinter dem Rücken des Erzählers selbst geht. Vieles wird eben so erzählt, weil der Erzähler gerne möchte, dass es so eine Erzählung sei, die plausibel sein und den eigenen Blickwinkel angenehm bedienen soll. Wer sollte den Erzähler daran hindern können? So spinnen die Erdlinge alle fleißig an ihrem eigenen Narrativ – es soll bunt, originell und erfolgreich sein, klar. Misserfolge haben da immer nur die anderen, die missgünstigen Verlierer. Klar.

Also bleibt die Spannung zwischen Vätern und Söhnen stets bestehen. Die Individualität kann sich nur in Abgrenzung zum anderen definieren. Darüber muss man aber nicht streiten. Die Liebe bleibt davon sowieso unberührt. Doch Spannung belebt die Lebensreise ungemein. Irrwege gehören mit zum Programm. Punkt.)