04 Juni

Historischer Roman II – Blatt # 181 – Leseprobe

Kennt denn das Schicksal überhaupt keine Gnade?

Der kommende Morgen in Augusta Treverorum müsste von einem Augenzeugen aufgeschrieben werden. Aber da ist kein solcher. So wird auch dieser Tag bald in Vergessenheit versunken sein, genau wie die Ruinen aus besseren Tagen hier an der behäbig dahin fließenden Mosella.

In aller Frühe entrollt ein des Schreibens kundiger Franke das schnell aufgeschriebene Urteil: Wegen Auflehnung gegen das Königsheil muss die fremde Frau aus Yrrlanth sterben. Am Galgen. Als Somythall der Richterspruch vorgelesen wird, ist im ehemaligen Amphitheater schon der Galgen aufgebaut.

„Nein, nein!“ schreit sie. Aber ihre Stimme versagt ihr. So ist es eher ein Röscheln, das ihr entfährt. Von zwei starken Wächtern wird sie kurzerhand aus dem Keller ans Tageslicht getragen. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Die sind aber stramm gefesselt. Ein Zucken ihres Körpers ist alles, was ihr so gelingt. Tränen, nichts als Tränen der Wut und der Verzweiflung lassen alles vor ihren Augen verschwimmen. Schon liegt sie in einem klobigen Wagen, gezogen von einem alten Ochsen. In seinen großen Augen spiegeln sich die geschäftigen Männer, die stumm ihre Befehle ausführen. Sie kennen die Frau nicht. Ihre Geschichte und ihre Botschaft sagen ihnen nichts. Yrrlanth? Was will die denn überhaupt hier bei uns? Peitschenknall, der Karren setzt sich in Bewegung, das Tier trottet die gepflasterte Straße hinab, vorbei an den baufälligen Thermen, die niemand mehr besucht, vorbei an dem ehemaligen östlichen Tor, das kaum mehr als Tor erkennbar ist. Ein Steinbruch jetzt, mehr nicht. Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern

sehen das Gefährt, die nebenher laufende Eskorte, aber die Frau darin sehen sie nicht. Das Poltern allein ist ihnen ein vertrauter Lärm. Da wird wohl etwas transportiert. Wegen der Wächter könnten sie Fragen stellen. Doch lieber nicht. Jetzt, wo der fränkische König ermordet ist, muss man besonders vorsichtig sein. Schnell hängen sie einem ein Schild um den Hals: Handlager der Meuchelmörder.

Auf den mit Unkraut übersäten Stufen des Amphitheaters sitzen blöd vor sich hin glotzend die Bettler, die vom Hämmern der Tischler aufgeweckt worden sind. Ein Galgen? Wer soll da gehängt werden? Hin und her gerissen zwischen dem Hunger auf etwas Essbares und der Neugierde auf das bevorstehende Spektakel haben sie sich für zweiteres entschieden. Der knurrende Magen protestiert.

Da kommt auch schon der Ochsenkarren angepoltert, flankiert von schwer atmenden Wächtern. Oho, oho! Brr! Was? Wen hat’s diesmal erwischt? Frongur, der gewählte Anführer der Bettler hier im Amphitheater, wird gleich vor geschickt:

„Geh, frag, wer sie ist, was sie verbrochen hat!“

Die Wächter schubsen ihn sehr unsanft zurück.

„He, du, pass auf, sonst bist du der nächste, der da hängt!“ Grölend verjagen sie mit Tritten Frongur, der gar nicht erst protestiert.

„Die Fremde gehört zu den Verschwörern des Königsmords, das geht euch gar nichts an, hau ab!“

Die Bettler hören alles mit. Schon beginnen sie zu tuscheln. Sie machen lange Hälse, nur ja nichts verpassen – von der Mörderin!

Somythalls Tränen sind versiegt. Wie eine Tote lässt sie sich aus dem Karren heben. Sie will diesen Angsthasen nicht ein Bild bieten, das die sich von einer Frau, einer zum Tode verurteilten Frau, machen. Sie will auch diese Welt, die da gerade um sie herum geistert, gar nicht mehr sehen. Mit geschlossenen Augen sieht sie sich neben Rochwyn auf dem Schiff sitzen, das sie neulich erst von Yrrlanth ins Reich der Franken gebracht hatte. Neulich. Fast ein Jahr ist es her. Und welch wunderbare Dinge ihr in dieser Zeit widerfahren waren. Fast gelingt ihr ein Lächeln dabei. Julianus. Wie sie im Tempel der Diana zusammen fanden, wie…Wie eine wacklige Statue stellen die Wächter jetzt die Frau unter den Galgen, legen ihr die Schlinge um den Hals. Das Rülpsen und Schmatzen der Bettler im Amphitheater rings um verstummt abrupt. Geiles Glotzen, sonst nichts. Der Anführer, der breitbeinig neben dem Galgen steht, verliest das Urteil. Somythall verweigert ihren Ohren das zu Hörende zu hören. Sie atmet jetzt ganz tief. Es schmerzt in der Brust. Sumila. Sumila. Das ist das Bild, das sie jetzt mit nimmt, als unter ihr der grobe Hocker weg getreten wird.

Die hungrigen Zuschauer klatschen grölend Beifall:

„Ey, ihr mutigen Krieger, das habt ihr gut gemacht, echt! Die ist hin!“

Die Wächter haben nur verächtliche Blicke für sie. Einer stellt neben dem Galgen noch ein Holzschild ab. Eingeritzt nur ein Wort: Mörderin. Als hätten sie schwere Arbeit erledigt, klettern sie dann ächzend in den Karren, in dem eben noch Somythall gelegen hat. Wieder knallt die Peitsche, wieder müht sich der alte Ochse mit dem Karren ab. Wieder kehrt die alte Ruhe im Amphitheater ein. Das ruchlose Schauspiel ist vorbei. Und die Augenzeugen taugen nichts. Sie können weder lesen, noch schreiben. Und schon beschäftigt sie Wichtigeres.

06 Mai

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 180 – Leseprobe

Somythalls Tagtraum im Land der Schmerzen.

Sie hat Durst, Hunger, Schmerzen, Angst. Auf feuchtem Stroh liegt sie im Keller des Stadtpräfekten von Augusta Treverorum. Sie fleht zu ihrer Göttin: Hilf mir, bitte! Ein unwirkliche Stille umgibt sie. Als wären die Geister, die einst dieses dritte Rom vibrieren ließen, müde schlafen gegangen, als wären die Hunnen nie hier gewesen, als wären die stolzen Senatorenfamilien alle ausgestorben, als wäre die lange Reise, die sie mit Rochwyn von YRRLANTH bis an den Rhein gemacht hat, nur ein schwerer, langer Traum gewesen. Sie bricht in Tränen aus, als sie den Namen Rochwyn im Erinnern aufruft. Und hilflos wird sie nun überspült von weiteren Namen und Menschen, die ihr begegnet sind: Ihre Großmutter, Voegrun, Julianus. Und was ist mit Sumila, ihrem kleinen Töchterchen? Was mit Pippa? Hier im dunklen Verlies überfällt sie ein übermächtiges Begehren nach Leben, Freude, Singen. Dann birst Zorn aus ihr heraus: Diese Franken! Sie brauchen jemanden, der als Täter taugt. Und sie als Fremde, als Frau eignet sich dazu bestens. Da ist niemand, der für sie Partei ergreifen wird. Da sind nur lauter verängstigte Männer, die gerne sehen wollen, wie eine Frau gequält wird. Möglichst arm an Kleidung, möglichst verzweifelt. Damit sie sich wenigstens für einen Augenblick stark fühlen können.

Ich werde ihnen keine Schwäche zeigen, nimmt sie sich vor. Wie ein Fieber geht es ihr durchs Blut: Meine Göttin macht mich stark, sie wird bei mir sein, sie wird mich ihnen entreißen. Ganz sicher. Und ich werde dazu lachen. So geht es ihr im Kopf hin und her, bevor der Schlaf ihr etwas Erholung gönnt.

Später wacht sie erschrocken auf. Da war jemand. Ihr Herz rast vor Angst und Wut. Träume ich das oder täusche ich mich? Sie weiß es nicht. Es ist zu dunkel, um irgendetwas in diesem Kellerloch erkennen zu können. Doch dann sieht sie die Augen, die auf sie zukommen, riecht den schlimmen Atem, spürt die gewalttätigen Hände.

Somythall will sich von ihren Ketten losreißen. Das schmerzt schlimm an den Gelenken. Ich muss schreien. Wie wild schreit sie los: „Pippa, Pippa komm, hilf mir!“ Sie schreit so laut, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geschrien hat. „Weg! Sei verflucht! Mistkerl!“

Ihre Stimme überschlägt sich, sie tritt um sich, rollt sich hin und her, schreit noch lauter. Ihre hohe Stimme hallt am Kellergewölbe wieder, kriecht durch die kleinen Öffnungen hinaus ins Freie, in die stille Nacht und fährt wie ein Blitz durch die Nachtruhe. Der Angreifer hat damit wohl nicht gerechnet. Aber er spürt, dass diese kreischenden Töne ihn verraten werden. Grunzend und fluchend lässt er von ihr ab, stolpert zum Ausgang, die Steintreppe hoch. Aber oben sind bereits die Wachen aufgewacht, haben Fackeln entzündet, stellen sich ihm in den Weg.

„Halt!“ rufen sie wild entschlossen; sie werfen ihn zu Boden.

Somythall atmet schwer unten im Verlies. Die Göttin hat ihr die Kraft gegeben, so zu schreien, wie sie noch nie geschrien hat. Als sie sich jetzt zitternd an die Kehle fasst und sich räuspert, wird ihr klar, dass sie kaum noch Stimme hat. Aber es hat sie gerettet. Sie hat sich selbst gerettet. So kommen ihr trotzige Tränen. Wartet nur, ihr werdet schon sehn!

16 Apr.

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 178 – Leseprobe

Ein Mönch muss aufschreiben, was sich zugetragen hat.

Wenn die Götter und Dämonen, die lautlos über dem ehemaligen Gallien schweben oder in den Bäumen und Quellen alter Wälder bescheiden wohnen, jetzt zu Gericht säßen, um die zu strafen, die gerade in der Palastaula zu Augusta Treverorum ein Blutbad angerichtet haben, dann müssten sich die Täter auf ein strenges Urteil gefasst machen. Da sie sich aber mehr und mehr von dem mörderischen Treiben der Menschen enttäuscht zurückziehen, maßen sich die kleinen Erdlinge an, selbst zu Gericht zu sitzen. Ob da nun der Schuldige sitzt oder nicht, ein Urteil lässt sich immer aussprechen.

Jetzt sitzt Bodebert, der kurz vor der Hochzeit mit Avelina, der Tochter des getöteten Königs, steht, flankiert von den beiden Äbten Martinus und Anselmus im Kellergewölberaum des Amtsitzes von Flavius Baracus Dicus, dem städtischen Präfekten, und starrt die nur noch spärlich mit einem groben Laken bekleidete Somythall an. Gefesselt, aber sehr aufrecht steht sie da. Sie kann es immer noch nicht fassen. Ist es doch nur ein böser Traum? Sie muss von Dämonen besessen sein, denkt der Graf gerade. Wie könnte sie sonst so unerschrocken vor ihm stehen? Die Soldaten, die im Halbkreis um sie herum stehen, glotzen sie abschätzig und gierig zugleich an. Und die beiden Äbte – mit gefalteten Händen auf dem Tisch – starren weiter unverwandt auf die von Flecken übersäte Holzplatte vor ihnen.

„Bruder Gregor, schreibt jedes Wort genau auf!“ hallt gerade Bodeberts Stimme unheilverkündend durchs Gewölbe.

Bruder Gregor zuckt zusammen, nickt eifrig. Seine Hand zittert.

„Nun, Frau, da du dich durch deine ausweichenden Antworten selbst in Verruf gebracht hast, ist deine Glaubwürdigkeit sehr in Frage gestellt. Meine beiden Beisitzer, Abt Martinus und Abt Anselmus, werden dir nun ein paar einfach Fragen stellen. Deine Antworten werden alle aufgeschrieben, damit nichts verloren geht.“

Sein Grinsen ekelt Somythall an. Sie ist gespannt, was diese beiden Äbte sie denn fragen könnten.

Abt Martinus räuspert sich und beginnt dann so:

„Im Namen des Herrn Jesus Christus fordere ich dich auf, keine Lügen auszusprechen!“

Dabei lächelt er gönnerhaft und lässt seine Hände elegant umeinander kreisen. Immer wieder.

„Warum sollte ich lügen, ich habe nichts zu verbergen und nichts Verwerfliches getan!“ antwortet Somythall sofort. Der Schreiber schaut fragend den Abt und den Grafen an: Muss ich das aufschreiben, soll sein Blick wohl sagen. Der Graf würde am liebsten jetzt kurzen Prozess machen. Diese Frau bringt ihn noch zum Wahnsinn. Aber er hat sich für die freundliche Darbietung entschieden, also muss er jetzt einfach nur weiter lächeln und nicken. Ja, schreib alles auf.

„Gut, Frau. Sag uns doch, ob du unserem Herrgott, Jesus Christus treu Gefolgschaft leistest, das würde dich in deiner Glaubwürdigkeit wachsen lassen.“

Somythall ist für einen Augenblick verwirrt. Soll sie sagen, dass sie nur ihrer Göttin verpflichtet ist oder soll sie so tun, als wäre sie getaufte Arianerin?

„Die Frage, die ich doch eigentlich beantworten soll, hat mit meinem Glauben nichts zu tun. Ich war jedenfalls zur fraglichen Zeit in der Villa Marcellina und nicht in Lutetia.“

Der Abt ist sprachlos. Mit solch einer Antwort hat er wahrlich nicht gerechnet. Aber gut. Er will es noch einmal versuchen, er will dieser fremden Frau doch nur helfen.

„Nun, Frau, wann hat dich denn der König – möge er ruhen in Christo – zuletzt gesehen?“

Na, geht doch, denkt Somythall, das ist nicht schwer zu beantworten.

„Als Duc Rochwyn aus YRRLANTH vom König in Lutetia empfangen wurde, stand ich neben dem Duc und habe den König freundlich gegrüßt.“

Der Abt gibt dem Schreiber ein Zeichen: schreib das nur ja ganz genau auf, das ist ein ganz, ganz wichtiger Punkt, soll das wohl heißen. Der Schreiber schwitzt, seine Feder kratzt über das Pergament, als wäre sie auf der Flucht vor einem Aasgeier.

„Bruder Anselmus, wollt ihr noch eine Frage stellen?“ wendet sich Abt Martinus an den anderen Beisitzer. Dabei streift er den Blick des Grafen dazwischen und spürt, dass der überhaupt nicht zufrieden scheint mit seiner Befragung. Bruder Anselmus nickt und legt auch gleich los:

„Weib, wäre es nicht besser gewesen, vor dem König in die Knie zu gehen und ihn nicht anzublicken – als Fremde, als Frau?“

„Nein, das hätte dem König sicher nicht gefallen.“

Alle fränkischen Männer im Raum halten den Atem an. Sie sind entsetzt.

Abt Anselmus versteht nicht, was diese fremde Frau mit ihrer Antwort sagen will. Doch bevor er nachfragen kann, mischt sich nun wieder Graf Bodebert ein:

„Schön, schön, Frau. Wir sehen, dass du dich entschlossen hast, unsere Fragen nicht ernst zu nehmen. Damit erübrigen sich natürlich weitere Fragen. Denn du hast uns so eine klare Antwort gegeben: Ich will euch nicht die Wahrheit sagen. Schreiber, versieh dieses Verhör mit dem Datum des heutigen Tages und lass es mich dann unterschreiben!“

„Halt! Mit keinem Wort habe ich gesagt, nicht die Wahrheit sagen zu wollen“, erwidert Somythall sofort. Doch der Graf – mit einem unwirschen Kopfschütteln beantwortet er die wortlose Frage des Schreibers, ob er diesen Einwurf der Frau aufschreiben soll – unterbricht sie nun recht rüde:

„Schweig, Weib! Du machst es so nur noch schlimmer. Führt sie ab! Schon morgen soll vor dem Stadtpräfekten Flavius Baracus Dicus der Prozess wegen Mitwisserschaft an der Ermordung des Königs stattfinden. Bis dahin sollten in einer peinlichen Befragung die Namen der Täter offenbar gemacht sein. Führt sie ab!“

Somythall kommen vor Wut die Tränen. Göttin, Rochwyn, Julianus – wo seid ihr denn? Ich brauche eure Hilfe, jetzt, fleht sie in ihrem Innern. Schon packen sie recht unsanft die wachhabenden Soldaten – sie sind froh, sie jetzt von nah riechen und spüren zu können – und schleppen sie aus dem düsteren Raum. Der Graf und die beiden Äbte tuscheln noch eine Weile, während der Schreiber Sand über die noch feuchten Buchstaben streut.