08 Nov

Leseprobe – Historischer Roman II YRRLANTH Blatt 117

Vorübungen zum Sterben in Lutetia, Luxovium und in der Villa Marcellina

Milde lächelnd sieht die große Göttin im winterkalten ehemaligen Gallien Männer Männerdinge tun. Stumm, stöhnend und schwitzend stehen sie sich gegenüber und üben das Töten. Was für Toren, was für arme Narren! Die große Göttin kennt ihre Gedanken nur zu gut: Sol, der Sonnengott, führe ihnen die Hand mit dem Schwert oder dem Speer oder dem Bogen. Sie versprechen ihm Opfergaben noch und noch, nur um sich des Sieges sicher zu sein.

So im hohen alten Buchenwald bei Lutetia. Pippin will auf Nummer sicher gehen, deshalb hat er einigen herumlungernden und frierenden Männern große Versprechungen gemacht, wenn sie sich ihm anschließen. Keine Waffen, keine Erfahrung? Kein Problem. Pippa hat ihm einen Sack Münzen besorgt (wo hat sie den her? Pippin will lieber gar nicht erst fragen), damit hat er Ausrüstung gekauft und jedem, der mit kommt, zwei Silberlinge in die Hand gedrückt.

Auf einer weiten Lichtung – den ersten Schnee haben sie mühsam zu den Seiten geschoben – stehen sie sich jetzt paarweise gegenüber. Pippin gibt ihnen Befehle: „Zurück, vor, Schwertarm hoch, Gegner Schritt zurück!“ Und das immer wieder. Ihr Atem fliegt als kleine weiße Wolke aus ihren Mündern, als wären es ihre Seelen. Seelenlos schlagen sie aufeinander ein. Schrill kreischt das Metall, wenn es auf Metall trifft. Aber schon nach einer kurzen Weile wollen alle eine Pause machen. Sie haben Hunger, sind müde. Solche Anstrengungen kennen sie nicht, wollen sie nicht. Die Münzen aber schon. Also treibt Pippin sie wieder und wieder an, macht dazu neue Versprechungen, schwadroniert vom König, der sie auszeichnen werde. Und in seinem Kopf sieht er schon die Villa dieses stolzen Römers in Flammen aufgehen, hört, wie der Bischof ihn lobt, sieht sich an der Tafel des Königs sitzen.

Auch in Luxovium sieht man Männer ihrem Kriegshandwerk mürrisch nachgehen. Hier ist es Rochwyn, der seine Leute bei Laune halten will, damit sie in diesen düsteren und eiskalten Wochen nicht trübsinnig oder jähzornig werden. Er hat sie zu Schießübungen hinter dem Kloster zusammen gerufen. Die alten Eichen, die dort in Reihe stehen, als wären sie die Wächter des Klosters, will er als Zielscheibe nutzen beim Bogen Schießen. „Also los, Leute! Jeder hat zehn Pfeile. Wer sie alle dicht nebeneinander ins Ziel bringt, hat einen Lederbeutel Roten in Aussicht!“ Da geht ein Grölen durch die Reihe seiner alten Krieger. Und schon geht es los. Rochwyn weiß, wenn sie im Frühling weiter ziehen, kommen ganz andere Feinde auf sie zu, als sie bisher zu Gesicht bekamen. Und er will keinen weiteren seiner Männer verlieren. Also müssen sie besser sein als die Gegner.

Und in der Villa Marcellina? Hier sind die Fallen fertig gebaut, kunstvoll mit Reisig überdeckt und Julianus übt jeden Tag mit allen Männern der Villa den Kampf Mann gegen Mann. Sie alle wissen, um was es geht.

06 Okt

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 106

Zeus begegnet Europa am Nil.

Phoinix, der Bruder Europas, der nach Theben am Nil gereist war, sitzt am Ufer des Flusses und blinzelt auf den träge dahin fließenden Strom. Ein großes Sonnensegel schützt ihn vor dem grellen Licht, das alles in ein blendendes Flimmerbild verflüssigt. Wer von uns dreien wird bei der Suche nach der Schwester, der wilden, erfolgreich sein, fragt er sich müde. Wie schnell doch die Segelboote lautlos über das Wasser huschen! Oder bilde ich mir das nur ein? Phoinix dämmert nach und nach weg aus dem, was ihm Augen, Ohren und Nase gerade anbieten.

„Ein Bild der Friedens und der Lebensfreude, stimmt‘s?“

Phoinix hört die säuselnde Stimme neben sich, nickt und denkt, das träume ich jetzt sicher. Und so dreht er sich leicht zur Seite, um den Fremden zu taxieren: Bauer, Hirte, Priester, Nomade? Was er sieht, erschwert ihm eine klare Antwort. Aber er ist auch zu müde. Dann hört er sich selbst sprechen:

„Europa, meine wilde Schwester, zieht den Schatten im Tempel vor. Sonst aber ist sie auch voller Lebensfreude.“

Zeus erschrickt. Was? Europa hier im Tempel? Wie kann das sein?

„So, so, im Tempel.“ Zeus versucht so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Du hast sie also gefunden?“

„Gefunden? Ich habe sie gar nicht gesucht. Wir sind zusammen unterwegs. Wir wollen gemeinsam die Tempelstadt anschauen. Unser Vater, König Agenor, hat immer so davon geschwärmt.“

Phoinix wundert sich, was er für Sätze aus sich heraus tönen lässt. Wo die wohl herkommen? Egal. Scheinen allemal zu passen, denkt er kichernd. Aber Zeus ist beeindruckt.

„Sehr klug von ihr, in den Tempel zu gehen. Hier draußen ist es auch wirklich viel zu heiß – oder?“

Hoffentlich merkt Phoinix nicht, wie aufgeregt ich bin, denkt Zeus nervös.

„Och, hier unter dem Sonnensegel geht‘s ganz gut, find‘ ich. Wenn du willst, kannst du ja auch in den Tempel dahinten gehen und ihr sagen, dass wir weiter wollen.“

Zeus findet, dass sei ein richtig guter Vorschlag. Er erhebt sich schnell, winkt noch mit der Hand und läuft durch die Flimmerwelt Richtung Tempel.

Phoinix, der jetzt endlich die Augen öffnet, dreht sich um, um dem Fremden nachzusehen. Wer das wohl war?

Vorsichtshalber rappelt er sich stöhnend hoch, packt sein Reisebündel und macht sich aus dem Staube. Man kann ja nie wissen, wie so jemand reagiert, wenn er sich betrogen sieht.

Phoinix lacht leise vor sich hin. Oder war es doch nur ein Traum?

Am Wasser will gerade ein schneller Segler ablegen. Ohne nachzudenken springt er noch schnell an Bord. Ob Europa doch eher in Delos oder in Piräus gelandet ist?

18 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 105

Kurzschlüsse der drei Götterbrüder. Teil I

Natürlich bleibt Zeus und seinen beiden Brüdern nichts von dem verborgen, was die Menschenkinder so treiben. Dass die drei Brüder Europas – Kilix, Kadmos und Phoinix – ihre Suche nach der Schwester in drei Richtungen treiben, gefällt ihnen sehr. Sie werden jedem der drei Brüder ein schönes Verwirrspiel inszenieren. Darauf freuen sie sie schon. Außerdem können die drei Götter – Zeus, Hades und Poseidon – so untereinander ordentlich rivalisieren: Wem wird die klügste Irreführung gelingen, wer wird die besten Ablenkungsmanöver erzählen können, wenn sie sich wieder auf Kreta treffen? Zeus hat da ja noch eine ziemliche Rechnung offen. Und das auch noch mit einer Frau! Dieser allzu stolzen Europa. Hybris. Die wird sie unbedingt zu Fall bringen. Das haben die Götter den Menschen schon immer vor Augen geführt.

„Nun, meine Lieben, wer will denn wohin von euch?“ fragt Zeus bestens gelaunt. Hades und Poseidon schauen sich grinsend an.

„Nach dir, mein Lieber, nach dir!“ säuseln sie fast gleichzeitig.

„Freunde, so kommen wir nicht weiter! Lasst mich also mal machen: Hades, du reist nach Delos zum Orakel und sagst diesem eingebildeten Kadmos, wie er den Orakelspruch zu verstehen hat. Und du Poseidon, du widmest dich diesem Kilix, den du doch sowieso nicht leiden kannst, und ich mache eine Kurzbesuch in Theben und werde dafür sorgen, dass der dritte im Bund, Phoinix, seine Reise an den Nil nie vergessen wird!“

Großes Gelächter hallt durch die hohe Halle auf dem Olymp. Die drei umarmen sich zufrieden und machen sich auch gleich auf den Weg. Nichts wie weg, bevor wieder diese vorlaute und dreimal kluge Athene, Zeus Lieblingstochter, aufkreuzt und peinliche Fragen stellt.

So viele Menschen hier im Hafen, denkt Kilix, als er über die vielen hölzernen Krane, die vielen Lastkähne, die vielen Amphoren, die vielen Stände blickt. Was tun?

„Eindrucksvolle Szene oder?“ erschrocken dreht sich Kilix zur Seite. Unbemerkt hat sich ein Fremder neben ihm aufgebaut, der ihn nun freundlich anlächelt.

„Kann man wohl sagen. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Wo kommst du denn her?“

„Phönizien, mein Vater…“ Kilix wundert sich über sich selbst, dass er so locker die Fragen des Fremden beantwortet. Poseidon aber lässt ihn gar nicht erst ausreden:

„Kenn ich, kenn ich. Die Tochter des Königs dort, Europa, soll sich ja hier in Athen aufhalten…“

„Wirklich? Wo denn?“ Kilix kann es noch gar nicht fassen. Gleichzeitig erzählen die beiden Brüder von Poseidon den beiden anderen Brüdern von Kilix jeweils ein anderes hübsches Ammenmärchen, wo Europa sich gerade versteckt. Lauter billige Lügen erzählen die Götterbrüder, bloß lauter Lügen.