19 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 99

Drei Irrfahrten und eine Traumgeschichte.

Die drei göttlichen Brüder – Zeus, Hades und Poseidon – liegen müde im warmen Ufersand Kretas, kichern vor sich hin und freuen sich wie Schneekönige in der Sonne: Alles läuft wie geplant. Agenor ist dumm dreist in sein Verderben gerannt und mausetot, die Brüder Europas haben sie in alle Himmelsrichtungen verstreut und Europa selbst ist zwar dem Anschlag eigenartigerweise nicht zum Opfer gefallen, aber das Basteln neuer Pläne macht ihnen inzwischen so richtig Spaß. Sie werden ihrem Bruder Zeus schon noch seine Genugtuung verschaffen, da sind sie sich ganz sicher.

Gleichzeitig treffen die drei Brüder Europas, Kilix, Kadmos und Phoinix in ihren jeweiligen Zielhäfen ein: Bei ruhiger See war Kilix im Abendlicht in Piräus angekommen und beginnt gleich mit seinen Erkundigungen. Kadmos sitzt bereits in einer dunklen Spelunke in Theben am Nil und fragt seine Zechkumpanen, ob jemand von ihnen Europa gesehen habe. Und Phoinix hört sich auf Delos gerade den Spruch des Orakels an: „Sei unverzagt, die Wahrheit wird dir bald schon selbst begegnen!“ Wie soll er das verstehen? Wird er hier seine Schwester Europa treffen? Wird er mit ihr zusammen dann zu ihrem Vater Agenor reisen?

Währenddessen ist die Hohepriesterin Chandaraissa mit dem Rat der Alten zusammen getroffen. Sie will die misstrauischen Ratsherren überzeugen, dass eine Ehe zwischen dem Minos von Kreta und Europa allen zugute kommen wird. Zumal Sardonios nun nicht mehr Unheil stiften kann.

„Was macht euch da so sicher, Hohepriesterin?“ fragt Berberdus, der Anführer des Rates in süßem Ton. Chandaraissa weiß, dass er ihr nicht gewogen ist.

„Nun, werter Berberdus, ich bete seit der Ankunft Europas jeden Tag zu unserer großen Göttin“ – alle erheben sich, verneigen sich, strecken die Arme hoch und murmeln dreimal hintereinander: „unsere große Göttin, unsere große Göttin, unsere große Göttin!“ – und setzen sich wieder, Chandaraissa macht eine lange Pause, dann fährt sie fort:

„Und jedes Mal erscheint sie mir dann nachts im Traum, lächelt und raunt: Von Kreta wird durch sie eine Ära des Friedens und der Wohlstands ausgehen, der bis zum Festland strahlen wird. Ich halte meine schützende Hand über sie und über die Insel.“

Zuerst sind sie sprachlos, die Ratsherren, wechseln bedeutende Blicke, dann beginnt ein Raunen, schließlich ergreift Berberdus noch einmal das Wort:

„Wenn du wahr sprichst, dann ist es unsere heilige Pflicht, den Minos von Kreta in seiner Absicht, Europa zu heiraten, zu unterstützen “

Die Ratsherren nicken und machen bedeutende Mienen dazu. Chandaraissa lächelt milde und entlässt die alten Räte mit großer Geste und dem Satz:

„In den Annalen der Insel werdet ihr später als die Väter einer glücklichen Ära genannt werden.“ Stolz verlassen sie den Audienzsaal. Die Hohepriesterin eilt zum Tempel zurück. Sie muss Europa von diesem Treffen erzählen, sofort.

18 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 34

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 34

S. 285 – Penelope ist genauso misstrauisch und zögerlich, wie Odysseus es die ganze Zeit war. In ihrer Vorsicht offenbart sich die G l e i c h g e s i n n t h e i t (h o m o p h r o s y n e)

des Ehepaars.

(das kann der alte Floh bestätigen: Salome und er sind in ihren Ansichten, in ihrem Humor, in ihren Interessen und in ihrer Diktion verwandt; so ist ihr Alltag abwechslungsreich und unterhaltsam, weil sie lauter Themen haben, die sie beide interessieren – sie sind g l e i c h g e s i n n t .)

… Hier haben wir also wieder das große Thema Identität, sagte ich in die Runde. Wie werden die beiden einander beweisen, wer sie sind? Schließlich sind zwanzig Jahre vergangen, schwierige Jahre, Jahre von Leid, Scham und Bedrängnis…

Wenn das Äußere, das Gesicht, der Körper nicht mehr wiederzuerkennen ist – was bleibt dann? Gibt es ein inneres „Ich“, das die Zeit überdauert?

(der alte Floh würde eher nein sagen: Sein früheres Ich ist ihm so fremd, so verloren gegangen, dass er kaum sagen kann, dass es seins war. Und sein späteres Ich scheint mit dem frühen wenig zu tun zu haben; also hat da nicht etwas überdauert, sondern da hat sich etwas Verpupptes in einem neuen anderen verwirklicht. Dazwischen gibt es nicht einmal eine schlingernde Hängebrücke, bloß einen tiefen Abgrund. Dramatisches Bild. Denn das eine hängt natürlich mit dem anderen zusammen, nur hat es sich weit vom Beginn entfernt. Er bräuchte ein gutes Fernglas, um klar zu sehen. Jetzt ist es eher ein vernebelter Eindruck, der sich ihm bietet. Und je länger und öfter er darüber nachdenkt, umso weniger sicher ist er sich in seinem Urteil. Was allerdings gut zu seinem I n t u i t i o n s – Argument (s. # 33) passt: So ungenau das Bild ist, das er sich jetzt von dem kleinen Floh macht, so ungenau war wohl auch das Bild, das sich der kleine Floh von sich gemacht hat, wenn überhaupt.)

S. 286 – Jeden Morgen schaue ich in den Spiegel und denke: Wer ist diese alte Frau, die mich ansieht? Ich fühle mich noch immer wie eine Sechzehnjährige.

(Der alte Floh erkennt noch vage den kleinen Floh, wenn er in den Spiegel schaut. Aber er fühlt sich auf keinen Fall wie ein sechzehnjähriger. Er ist froh, dass er sich nicht mehr so fühlt, wie damals: verängstigt, ratlos, unsicher; wütend, weil unfähig in allem. Aber er fühlt sich jetzt wie in seinen fünfziger Jahren: gut gelaunt, selbstbewusst, kreativ und voller Humor. Sprache ist seine Welt – lesen, schreiben, gestalten. Deshalb schreibt er unentwegt Tagebuch, im blog – www.johannes-seiler.de , schreibt an seinen historischen Romanen, schreibt Fabeln für die Enkelkinder, schreibt an autobiographischen Blättern (AbB) und arbeitet sich mit seiner Phantasie in Tagträumen an den vielfältigen Lektüren ab.)

18 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe – # 33

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 33

S. 272/3 – Sosehr sich mein Vater später auch darüber freute, dass seine Kinder studierten, Dissertationen schrieben, die er selbst nicht geschrieben hatte, akademische Titel erwarben, die er selbst nicht hatte erwerben können – es muss schwierig gewesen sein. Unsere Erfolge, auf die er so stolz war, müssen ihn umso lebhafter an seine eigene Geschichte erinnert haben, an die Wege, die ihm verschlossen geblieben waren und die er, wie ich jetzt wusste, aus irgendeinem Grund ausgeschlagen hatte.

(dem Floh war lange nicht klar, dass er einen Sonderweg gegangen war, den sein Vater gar nicht hätte einschlagen können. Der Vater war Schreinermeister. Das Gymnasium, das Studium, seine akademische Karriere, die der Floh relativ kopflos absolvierte, waren eher ein weiterer Keil, der zwischen ihm und seinem Vater eingerammt wurde. Im Laufe der Zeit verschoben sich so die Gewichte: Die Autorität des Vaters sank und sank, die Arroganz des Sohns stieg und stieg. Die Mutter – dazwischen – war wohl sehr zufrieden mit ihrem Jüngsten. Er entschädigte sie wohl für vieles, das sie von Seiten ihres Gatten ertragen musste an Demütigungen, Kränkungen, Bedrohungen. All das aber wurde dem Floh erst viel, viel später „klar“.)

S. 277 – Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Lehrerberufs, das man nie weiß, wen man letztlich erreicht. Man weiß nie, wer sich als wahrer Schüler herausstellen wird, der das, was man anzubieten hat, aufnimmt und sich zu eigen macht. Wobei das, was man anbietet, in nicht geringem Maß auf andere Lehrer zurückgeht, die sich ihrerseits gefragt haben, ob ihr Schüler das, was sie zu vermitteln haben, annehmen wird, und die, wenn er alt genug ist, über diese Erfahrung zu schreiben, inzwischen so alt wie seine Eltern, vielleicht sogar schon tot sind. Man weiß nie, welcher der jungen Leute am Seminartisch sich vom Lehrer oder dem Text aus irgendeinem Grund so tief berühren lässt, dass das Vermittelte noch lange fortleben wird.

Tatsächlich ist Erziehung, die Pädagogik, das Hinführen des Kindes zum Wissen, ein komplexer, nicht vorhersehbarer Prozess, dessen Mechanismen und Wirkungen für Schüler wie Lehrer oft unerklärlich sind.

(der kleine Floh hatte wohl einen Grundschullehrer, der ihn für sehr förderungswürdig hielt – so hatte er am Ende der vierten Volksschulklasse lauter sehr gute Noten – bis auf Rechnen – und empfahl ihn so fürs Gymnasium. Bei der Aufnahmeprüfung in Siegburg zerplatzten allerdings solche Blütenträume jäh. Herr Weber ( oder hieß er anders?) bekam wohl hinter den Kulissen Ärger, die Eltern versuchten es dann nach der 5. Klasse mit einem Internatsgymnasium – wo es auch eine Aufnahmeprüfung gab, die der Floh aber bestand.

Und im Gymnasium? Prägende Lehrer? Pater Karl in Latein, Herr Brückert in Griechisch und Jimmy, der Schulleiter. Aber worin bestand die Prägung? Sie haben wohl seine Sprachbegabung gefördert, ohne es zu wissen vielleicht. Lob war keine Option. Der alte Floh ist sich jedoch nicht sicher, ob das zutrifft. Im Langzeitgedächtnis waren Vokabeln und Grammatik gut abgelegt, auch sein Interesse an Geschichte wurde bedient, vielleicht. Aber Literatur? Wenig Förderung. Als Oberstufenschüler gründete er eine Schülerzeitung PANOPTIKUM, auch schrieb er einen Sketch, der auch aufgeführt wurde und er begann auch, lange Brief an die Geliebte zu schreiben. Seine Botschaften kamen aber wohl nicht so an, wie er sie verschlüsselt weiter reichte.

Ihm selbst war allerdings überhaupt nicht klar, dass er irgendwelche Begabungen hätte. Da war auch niemand – weder in der Familie, noch in der Schule – der ihn gelobt hätte. Spracharm stolperte er voller Unsicherheit, Angst und Wut durch die ersten beiden Jahrzehnte seines Lebens. Irgendwie ging es weiter.

Er hatte allerdings immer das Gefühl, dass er selbst keinen Einfluss nahm auf die Entwicklung seines Lebens. Er lief immer hinterher und beneidete die anderen, die anscheinend – aus unerfindlichen Gründen – Bescheid wussten, wie man es macht.

Später dann – so nach und nach und ohne bewusste Beeinflussung – gelang ihm immer besser, beachtet zu werden. Und was sein Einfluss auf seine Schüler betraf, so merkte er sehr wohl, dass seine Diktion, seine theatrale Präsenz als Lehrer Eindruck machte. Er konnte hohe Forderungen stellen, die tatsächlich erfüllt wurden. Natürlich stellte er auch an sich selbst solche hohen Forderungen, klar. Später werden ihm ehemalige Schüler bestätigen, dass sein Einfluss nicht unerheblich war. Später. Die zweite Hälfte seines Lebens gestaltete sich i n t u i t i v viel bewusster, lustvoller und kreativer als die erste. Überhaupt wurde ihm nach und nach klar, dass er nur seiner Intuition vertraute und dass sie in ihrer Ungenauigkeit viel wahrhaftiger und brauchbarer ist: Sie entspricht geradezu dem menschlichen Sein, das aus der Intuition heraus lebt, versteht, denkt und handelt. Bei all dem war und ist er aber immer allein mit sich, er hat keine Freunde, keine Berater, Kritiker. Er lebt und denkt in seiner eigenen Welt mit seiner Sprache, die stark an Hölderlins Rhythmus und Melodie angelehnt ist. Aber wo sind die Worte, wenn er sie nicht ausspricht? Warum kommen sie so, wie sie kommen? Kleists Text „Über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen“ ist für ihn nach wie vor ein Schlüsseltext: Er bringt es auf den Punkt – Jeder Satz ist ein Überraschung für ihn selbst. Er ist nur der Lautsprecher.

Auch der Ton seiner Stimme ist ihm fremd. Wie auch sonst? Er scheint aber auch Wirkung zu erzeugen. So wie die wunderbare Stimme seiner Mutter, die einen umwerfenden Mezzosopran hatte, dem wohl auch der Vater erlegen war. Aber Einfluss der Eltern? Da waren die Übungen in Schweigen und schlechter Laune, wortloser, sicher maßgeblich in jungen Jahren. Begabt war er wohl im Nachahmen der Eltern. Keine Gefühle zeigen, wenig reden, zornige Augenbrauenarbeit und negative Wellen senden.)