18 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe – # 33

AbB Neue Versuche entlang von „Eine Odyssee“ von Daniel Mendelsohn

# 33

S. 272/3 – Sosehr sich mein Vater später auch darüber freute, dass seine Kinder studierten, Dissertationen schrieben, die er selbst nicht geschrieben hatte, akademische Titel erwarben, die er selbst nicht hatte erwerben können – es muss schwierig gewesen sein. Unsere Erfolge, auf die er so stolz war, müssen ihn umso lebhafter an seine eigene Geschichte erinnert haben, an die Wege, die ihm verschlossen geblieben waren und die er, wie ich jetzt wusste, aus irgendeinem Grund ausgeschlagen hatte.

(dem Floh war lange nicht klar, dass er einen Sonderweg gegangen war, den sein Vater gar nicht hätte einschlagen können. Der Vater war Schreinermeister. Das Gymnasium, das Studium, seine akademische Karriere, die der Floh relativ kopflos absolvierte, waren eher ein weiterer Keil, der zwischen ihm und seinem Vater eingerammt wurde. Im Laufe der Zeit verschoben sich so die Gewichte: Die Autorität des Vaters sank und sank, die Arroganz des Sohns stieg und stieg. Die Mutter – dazwischen – war wohl sehr zufrieden mit ihrem Jüngsten. Er entschädigte sie wohl für vieles, das sie von Seiten ihres Gatten ertragen musste an Demütigungen, Kränkungen, Bedrohungen. All das aber wurde dem Floh erst viel, viel später „klar“.)

S. 277 – Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Lehrerberufs, das man nie weiß, wen man letztlich erreicht. Man weiß nie, wer sich als wahrer Schüler herausstellen wird, der das, was man anzubieten hat, aufnimmt und sich zu eigen macht. Wobei das, was man anbietet, in nicht geringem Maß auf andere Lehrer zurückgeht, die sich ihrerseits gefragt haben, ob ihr Schüler das, was sie zu vermitteln haben, annehmen wird, und die, wenn er alt genug ist, über diese Erfahrung zu schreiben, inzwischen so alt wie seine Eltern, vielleicht sogar schon tot sind. Man weiß nie, welcher der jungen Leute am Seminartisch sich vom Lehrer oder dem Text aus irgendeinem Grund so tief berühren lässt, dass das Vermittelte noch lange fortleben wird.

Tatsächlich ist Erziehung, die Pädagogik, das Hinführen des Kindes zum Wissen, ein komplexer, nicht vorhersehbarer Prozess, dessen Mechanismen und Wirkungen für Schüler wie Lehrer oft unerklärlich sind.

(der kleine Floh hatte wohl einen Grundschullehrer, der ihn für sehr förderungswürdig hielt – so hatte er am Ende der vierten Volksschulklasse lauter sehr gute Noten – bis auf Rechnen – und empfahl ihn so fürs Gymnasium. Bei der Aufnahmeprüfung in Siegburg zerplatzten allerdings solche Blütenträume jäh. Herr Weber ( oder hieß er anders?) bekam wohl hinter den Kulissen Ärger, die Eltern versuchten es dann nach der 5. Klasse mit einem Internatsgymnasium – wo es auch eine Aufnahmeprüfung gab, die der Floh aber bestand.

Und im Gymnasium? Prägende Lehrer? Pater Karl in Latein, Herr Brückert in Griechisch und Jimmy, der Schulleiter. Aber worin bestand die Prägung? Sie haben wohl seine Sprachbegabung gefördert, ohne es zu wissen vielleicht. Lob war keine Option. Der alte Floh ist sich jedoch nicht sicher, ob das zutrifft. Im Langzeitgedächtnis waren Vokabeln und Grammatik gut abgelegt, auch sein Interesse an Geschichte wurde bedient, vielleicht. Aber Literatur? Wenig Förderung. Als Oberstufenschüler gründete er eine Schülerzeitung PANOPTIKUM, auch schrieb er einen Sketch, der auch aufgeführt wurde und er begann auch, lange Brief an die Geliebte zu schreiben. Seine Botschaften kamen aber wohl nicht so an, wie er sie verschlüsselt weiter reichte.

Ihm selbst war allerdings überhaupt nicht klar, dass er irgendwelche Begabungen hätte. Da war auch niemand – weder in der Familie, noch in der Schule – der ihn gelobt hätte. Spracharm stolperte er voller Unsicherheit, Angst und Wut durch die ersten beiden Jahrzehnte seines Lebens. Irgendwie ging es weiter.

Er hatte allerdings immer das Gefühl, dass er selbst keinen Einfluss nahm auf die Entwicklung seines Lebens. Er lief immer hinterher und beneidete die anderen, die anscheinend – aus unerfindlichen Gründen – Bescheid wussten, wie man es macht.

Später dann – so nach und nach und ohne bewusste Beeinflussung – gelang ihm immer besser, beachtet zu werden. Und was sein Einfluss auf seine Schüler betraf, so merkte er sehr wohl, dass seine Diktion, seine theatrale Präsenz als Lehrer Eindruck machte. Er konnte hohe Forderungen stellen, die tatsächlich erfüllt wurden. Natürlich stellte er auch an sich selbst solche hohen Forderungen, klar. Später werden ihm ehemalige Schüler bestätigen, dass sein Einfluss nicht unerheblich war. Später. Die zweite Hälfte seines Lebens gestaltete sich i n t u i t i v viel bewusster, lustvoller und kreativer als die erste. Überhaupt wurde ihm nach und nach klar, dass er nur seiner Intuition vertraute und dass sie in ihrer Ungenauigkeit viel wahrhaftiger und brauchbarer ist: Sie entspricht geradezu dem menschlichen Sein, das aus der Intuition heraus lebt, versteht, denkt und handelt. Bei all dem war und ist er aber immer allein mit sich, er hat keine Freunde, keine Berater, Kritiker. Er lebt und denkt in seiner eigenen Welt mit seiner Sprache, die stark an Hölderlins Rhythmus und Melodie angelehnt ist. Aber wo sind die Worte, wenn er sie nicht ausspricht? Warum kommen sie so, wie sie kommen? Kleists Text „Über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen“ ist für ihn nach wie vor ein Schlüsseltext: Er bringt es auf den Punkt – Jeder Satz ist ein Überraschung für ihn selbst. Er ist nur der Lautsprecher.

Auch der Ton seiner Stimme ist ihm fremd. Wie auch sonst? Er scheint aber auch Wirkung zu erzeugen. So wie die wunderbare Stimme seiner Mutter, die einen umwerfenden Mezzosopran hatte, dem wohl auch der Vater erlegen war. Aber Einfluss der Eltern? Da waren die Übungen in Schweigen und schlechter Laune, wortloser, sicher maßgeblich in jungen Jahren. Begabt war er wohl im Nachahmen der Eltern. Keine Gefühle zeigen, wenig reden, zornige Augenbrauenarbeit und negative Wellen senden.)

22 Apr

Leseprobe # 3 Echos aus gelebtem Leben – Autobiographiesplitter

23 Echo das dreiundzwanzigste 11-03-16

Aus:  Wolfgang Herrndorf. Arbeit und Struktur:

W.H. „15.12.2010 16:37 Prof. Moskopp zitiert Schiller, Benn, Wittgenstein. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, dies sei, so Prof. Moskopp, vermutlich zu plakativ (mot juste vergessen). Einigkeit mit Tom Lubbock, der Worte und Sprache verliert, und dennoch: „My thougths when I look at the world are vast, limitless and normal, same as they ever were.“

js – DO 16.12. 2010 14:40

Laura hatte auf dieser Seite des TG ein Zitat von Humboldt hingeschrieben:

Die Zeit ist nur ein leerer Raum, dem Begebenheiten, Gedanken und

Empfindungen erst Inhalt geben.

Und der alte Floh hat an diesem Tag einen zweiseitigen Eintrag in türkisfarbener Tinte verfasst: …Es ist der Tag (der Vortag, also der Tag, am dem W. H. seinen Prof. Moskopp-Eintrag verfasste), an dem er mit Nora per Zug nach Lübeck fährt, wo ihr Rigorosum um 13:00 Uhr stattfinden wird. Jetzt, wo er diesen langen und detaillierten Eintrag liest, kommen tatsächlich auch die Bilder wieder zurück; sicher etwas geschönt und mit Patina versehen, aber doch wohl im Bereich des Wahrhaftigen, tangential zumindest…

Fortsetzung am 12-03-16 16:12

Am 17.12.2010 15:43 schreibt W.H.: „Unangemeldeter Besuch eines jenseitsgewissen Christen, der mein Blog gelesen hat.“

Fast gleichzeitig steht im TG des pensionierten Flohs folgendes Zitat aus Jonathan Franzens FREIHEIT , S, 71 (weitere Verweise auf S. 72, 74, 104 und 105):

„Da sie sich an ihren Bewusstseinszustand während der ersten drei Jahre am College nicht erinnern kann, fürchtet die Autobiographin, dass sie sich einfach in keinem Zustand der Bewusstheit befand. Es kam ihr zwar so vor, als ob sie wach wäre, aber in Wirklichkeit muss sie geschlafwandelt sein.“

Der ironische Unterton in W.H.’s Eintrag zeigt unterschwellig seinen Unwillen: einmal gegen die Jenseitsgewissen und sicher auch gegen falsche Empathiker. Dazu passt auch gut der Eintrag von Laura auf der gleichen Seite wie das Franzen-Zitat (zu ihrem Geschenk gehörte eben nicht nur das leere Tagebuch, sondern eben auch viele Zitate über viele Seiten verteilt. Ein schönes Geschenk):

Wer nicht in die Welt passt, der ist immer nahe daran, sich selber zu

finden.“ (Hermann Hesse)

W.H.! Du hast dich ganz sicher gefunden – nicht zuletzt in deinen eigenen Texten!