11 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 30

„Antwort“ auf die Fragen aus AbB Neue Versuche # 29:

Wie kann man nur so anthropomorph zu erklären versuchen, was sich doch gerade solchen Bebilderungen entzieht? Ist doch für eine derartige Mehrdimensionalität im Innern der Erinnernden weder Raum noch Zeit. Oder etwa doch? Dann aber so anders, damit die Innenwelt ( und schon flutscht durch die Hintertür die Anthropomorphia stekum, still und leise wieder herein!) diese zahllosen Bilder eines prallen Lebens in ihrer ganzen Fülle zu bewahren vermag. Wie sehr liegen deshalb auch die Neurologen falsch, wenn sie glauben, mit der Bildersprache der Algorithmen das einhegen zu können, was sich ihnen einfach nicht unterwerfen will?

Der circulus vitiosus ist eben der, dass etwas beschrieben werden soll, zu dem man aber Werkzeuge des Beschreibens benutzen muss, die vor „Ort“ jedoch gar nichts bewirken können! Weil sie eben Werkzeuge aus einer Wirklichkeit sind, die im Erinnern keine Rolle spielen, keine Geltung haben, viel zu plump, groß, grobschlächtig sind. Alles zerschlagen würden, was sie kunstvoll wieder zusammen leimen sollen.

Die vorläufige Notlösung könnte vielleicht sein: Nicht nur ist das Erinnerte ein Trugbild – ein Konstrukt, also ein Palimpsest – nein, auch das Erleben ist ein solches: Im Moment des Eindrucks auf die Sinne wird die Wirklichkeit bereits umgeformt, es wird herumgeschabt, mit bereits ähnlichen erinnerten Eindrücken verglichen, dann angeglichen, dann gleich gesetzt– je nach dem, wie der jeweilige Sinn reizvoll darauf reagieren will und wird. Das aktuelle Bild ist ja bloß Spiegel, nicht da, wo es ist, sondern da, wo es nachgebildet wird – also an einem anderen Ort – also fremd, draußen vor. Verwandtschaften können zwar unterstellt werden, aber welchen Grades, das muss dahin gestellt bleiben.

So leben wir in einem Hohlraum voller Vermutungen, willkürlichen Setzungen, die wir nur oft genug wiederholen müssen, um meinen zu können, sie seien die Wirklichkeit selbst, das Jetzt in seiner ganzen Totalität. Chaos in ein buntes, gerahmtes Bild gefasst. Da schließt sich der Kreis anthropomorpher Setzungen. Natürlich immer nur in Häppchen, Teilaspekten, damit es nacheinander betrachtet und verstanden werden kann, was von Natur aus aber kein nacheinander, sondern ein gleichzeitig sein müsste.

Hat Leibniz also doch Recht? Monaden haben keine Fenster? Was wir sehen, ist vielleicht nur die Tapete eines Außen, das wir Innen als Außen bezeichnen. Ein kleines Durcheinander, mit dem wir aber gerne leben wollen, weil wir uns so als die Herren im Haus begreifen dürfen, was wir ja nun wirklich nicht sind.

10 Mai

Autobiographisches – Neue Versuche – Leseprobe # 29

AbB Neue Versuche # 29 10-05-2020 Judith Kuckarts – Kein Sturm, nur Wetter. Roman 2019 – siehe: SZ / # 218 / Freitag, 20. Sept. 2019 – Literatur – S. 15 v. Hubert Winkels.

„Wo sind die Erinnerungen, wenn man sie nicht hat?“

Was für eine gefahrvolle Frage!

Mehrdimensional sind die Bilder farbenfroh vor Augen beim Denken in der flüchtigen Gegenwart – dann fallen sie hinten, hinter dem Bühnenrückraum, einfach in die Tiefe des Unterbewusstseins hinab. Aber wohin? Wo schlagen sie auf? In welchen Regalen stehen sie in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet? Sind sie da gegen Sonnenlicht geschützt? Oder werden sie wie Poster übereinander gestapelt, nach zeitlicher Abfolge des Gedachten, beziehungsweise Erlebten? Oder werden sie in Einzelteile zerlegt – Puzzle-Stückchen – liegen dann einfach auf einem Haufen, wo man sie erinnernd wieder ordentlich zusammenlegen muss. In Schubladen verstaut? Und wenn das zu lange dauert? Oder liegen sie in Säcken zusammen mit den Gerüchen in Kühlräumen? Oder gibt es eine Karteisammlung, in der sie abgelegt sind unter bestimmten Stichwörtern? Oder verflüssigen sie sich und werden beim Neu Zusammensetzen nur sehr ungefähr wieder verfestigt? Oder bemächtigen sich die starken Gefühle ihrer und kneten sie zu einem bunten und geruchslosen Brei, den sie genüsslich verspeisen. Als verdaut oder unverdaut tauchen sie dann unerwünscht oder zu hastig wieder vor dem inneren Auge auf und tun so, als wären sie gerade nur mal schnell wo gewesen. Aber wo waren sie wirklich und als was in der Zwischenzeit? Werden sie vielleicht im Wartezustand unwillig, verzerren sich zornig und präsentieren sich deshalb bei Wiederbelebung als Zerrbilder? Oder tun sie nur so, dass sie es wären, wollen aber – weil achtlos hinten abgelegt – so richtig den Erinnernden täuschen, als Rache sozusagen; weil ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als sie in der sinnlichen Wirklichkeit waren? Und die Fotos? Da haben die zurückkehrenden Erinnerung keine Probleme: Sie tun einfach so, als kämen sie ihnen bekannt vor. Im Stillen aber lachen und kichern sie in einem fort, weil ursprünglich doch alles ganz anders gewesen war. Oder? Natürlich. Und eben gerade kein Foto. Die Erinnerung war doch dabei gewesen! Also, was soll das ganze Theater?

Es ist nur eine peinliche Unaufmerksamkeit des Erinnernden, wenn er seine Erinnerung nicht in sich lokalisieren kann. Er kennt sich eben einfach zu wenig da drinnen aus. So einfach ist das. Anstatt immer mit den Sinnen das Außen abzutasten, sollte er besser mal in der Gegenwart anwesend sein. Dann wüsste er nämlich, dass das Erleben des Augenblicks so eine unendliche Fülle von Chaos und Schönheit ist, dass er gar nicht erinnert werden kann. Denn das erinnerte Erinnern ist dagegen derart blass und schlaff, dass der Erinnernde alles daran setzt, den schwarzen Peter ans fehlerhafte Bewusstsein zu delegieren. Unwiederbringlich aber.

„Da hätte ich doch mehr von dir erwartet, wirklich!“

04 Mai

Europa – Meditation # 199

Europa und die vier Musketiere nach Corona.

Wird es ein aufatmendes Erwachen Europas geben, das diese Viren-Geschichte als lästigen Albtraum möglichst schnell hinter sich lassen möchte, damit wir möglichst schnell da wieder anknüpfen können, wo wir waren, bevor wir uns selbst weggeschlossen haben?

Kurze Rückblende:

Europa im 16./17. Jahrhundert:

So viele Schiffe segeln mit Siedlern und Abenteurern in die Neue Welt aus Europa, wo sie missionieren und frei von den Bevormundungen der Alten Welt ein freies Land auf freiem Boden gründen wollten und gleichzeitig unzählige Menschen dort mit eingeschleppten Seuchen zugrunde richteten.

Europa im 18. Jahrhundert:

Und wieder segeln viele Schiffe aus Europa in die Neue Welt – manche mit einem kleinen Umweg über Afrika, dafür aber sehr lukrativ – diesmal mit zwangsrekrutierten Soldaten aus England, Frankreich und ihren Verbündeten (u.a. aus dem Württembergischen), die Krieg führen mit den Siedlern aus Europa und dafür Schein-Bündnisse mit den Ureinwohnern schließen. Am Ende sind viele vor der Zeit unter der Erde.

Europa im 19. Jahrhundert:

Immer mehr Menschen verelenden auf dem kleinen Kontinent Europa. Also, nichts wie ab in die neue Welt; dort soll es Chancen für alle die geben, die das Glück in die eigenen Hände nehmen wollen. In Asien schließen die Europäer gleichzeitig Knebelverträge mit alten Kulturen und versuchen sie durch Opium gefügig und abhängig zu halten.

Europa im 20. Jahrhundert:

Die ehemaligen Siedler aus Europa haben ihre Grenzen längst bis an den Pazifik und sogar darüber hinaus verschoben. Das Militär sorgt fürs Selbstbewusstsein – der Bruderkrieg im eigenen Land ist längst Geschichte – Religion und Rassendiskriminierung leben unversöhnt nebeneinander her und nun müssen sie sogar in Europa die völlig zerstrittenen Nationen zum Frieden zwingen, zweimal sogar! Eine Seuche ist auch wieder dabei.

Europa im 21. Jahrhundert:

Vom ununterbrochenen Bilderregen weich gespült – auch hier sind die ehemaligen Siedler aus Europa tonangebend – sind die Europäer von einem auf den anderen Tag in eine heftige Krise geraten. Diesmal gilt es, sich gegen ein Virus zu schützen, das schon wieder alle über einen Kamm schert. Und in ihrer Not rufen die Europäer wieder die erfolgsverwöhnten Freunde aus der Neuen Welt um Hilfe und werden auch gleich bedient. Vier edle Musketiere kommen nun den arg gebeutelten Europäern frohgemut zu Hilfe.

Die vier stellen nur ein paar wenige Bedingungen, die in Europa aber angesichts der momentanen wirtschaftlichen Prognosen wohl in Kauf genommen werden müssen:

1.) Das Primat der Wirtschaft muss endlich wieder unbedingt gelten.

2.) Die Macht des Marktes wird an wenige, aber dafür umso stärkere Akteure delegiert. Die vier Musketiere.

3.) Die uneingeschränkte Verfügung , die diese Akteure über die notwendigen Daten haben müssen, versteht sich von selbst dabei.

4.) Die Arbeitsrechte müssen demgegenüber in ihre Schranken gewiesen werden zum Wohle aller.

Und da kommen sie denn auch gleich, die vier Musketiere!

Furchtlos, selbstbewusst und im festen Glauben an die eigenen Kräfte regeln sie von Übersee her kommend die anstehende Nach-Corona-Agenda mit starker Hand. Die federführenden Ministerien werden selbstverständlich ihre Administrationen als Vollzugsorgane zur Verfügung stellen.

Der erste hat schon bewiesen, wie erfolgreich er agieren kann, wenn man ihn nur lässt – jetzt. Keine Dividende, keine Profite. Die Preise werden nicht dem Zufall des Marktes überlassen, sondern seinem Diktat. Er übernimmt gerne die Sicherstellung der Grundversorgung aller, die gesamte Logistik, baut selbst die notwendige Infrastruktur selbstverständlich auf – effizient und reibungslos.

Der zweite will den Stand derzeitiger Technologien und Digitalisierungen hochfahren, sie optimieren mit einer Software, die es jedem Staat in Europa möglich machen wird, schnell und wirksam auf jedwede Unwucht ad hoc reagieren zu können. So kann Europa nicht nur den Terrorismus, sondern auch jede Epidemie schnell und nachhaltig erkennen und in die Schranken weisen. Gleiches gilt natürlich auch für die optimale Kontrolle der Flüchtlingsströme in Europa.

Der dritte bietet sich als der kompetente Vermögensverwalter großer privater wie öffentlicher Interessenten an, er ist so potent, dass selbst ordentliche Staatshaushalte vor seinem Volumen erblassen. Also lassen wir ihn doch für uns alle in Europa aus Schulden wieder Gold machen!

Der vierte im Bunde der Musketiere ist ein alter Hase im Geschäft. Seine Erfahrung ist im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. Er übernimmt als wahrer Philanthrop staatliche Aufgaben gern – er hat einen langen Atem und einen langen Arm, damit greift er selbst der WHO hilfreich unter die Arme, und Impfstoffe, wonach gerade nicht nur die Europäer schreien, werden mit seinem Potential in kürzester Zeit zu kleinen Preisen ganz sicher auf dem Marktplatz aufschlagen.

Was für Glückspilze wir Europäer doch sind: Da kommen diese vier gut gelaunten Burschen – Larry, Jeffrey, Peter und Bill – zu uns und bieten ihre uneigennützige Hilfe an. Was wären wir doch wirklich für unverbesserliche Dummköpfe, wenn wir diesen vier nicht das Ruder in die Hand drückten! Ahoi!