AbB
– Erneute Annäherungen an alte Narrative # 1 ab Januar
2021
Nach der eindrucksvollen Lektüre von DAS JAHRHUNDERT DER GISÈLE – Mythos und Wirklichkeit einer Künstlerin. Von Annet Mooij – Büchergilde Gutenberg 2020 will der Floh noch einmal parallel dazu seine eigene Geschichte fragmentarisch neu erzählen, denn die Gleichzeitigkeit der beiden so verschiedenen Leben ermöglicht viele Spiegelungen der Zeit in verschiedenen Biographien und Erzählungen.
Im Epilog schreibt Mooij u.a.: (S. 413): „Gisèles Treue zur Castrum-Gemeinschaft ließ ihre mentale Strategie des Aufhübschens und Idealisierens auf die Dauer zu einer Überlebensstrategie werden. Dem lag keine bewusste Entscheidung oder ein ausgeklügelter Plan zugrunde, sondern es war eher etwas, das sich im Laufe der Zeit entwickelte. Was als die natürliche Neigung einer einsamen Internatsschülerin mit reicher Phantasie begann, dann in einer familiären Situation zur Entfaltung kam, in der Skandale und Gesichtsverlust um jeden Preis vermieden werden mussten und der gute Ruf heilig war, wuchs sich zu einer emotionalen Notwendigkeit in einer Umgebung aus, in der Mythos und Wirklichkeit, Ideal und Realität oft weit auseinander lagen.“ Schon hier muss der Floh nervige Fragen stellen: „Und sie, wie wollen wir denn i h r e ‚mentale Strategie‘ nennen? Hat nicht jeder so etwas Ähnliches in seinem Repertoire des Denken und Tagträumens vorrätig, um sich selbst verständlich und vertretbar zu machen, was sich aber eigentlich dem denkenden Zugriff immer wieder entzieht, wenn es zum Festhalten kommt?
(S. 412) „Das war in der Tat die Vorgehensweise Gisèles: Sie ‚erhob‘ ihre Lebensgeschichte nicht, indem sie sie zusammenphantasierte, sondern indem sie die Wirklichkeit korrigiert. Sie gab ihr einen Dreh und einen märchenhaften Glanz, die sie selbst glücklicher machten und die Zuschauer fasziniert zurückließen. Hinter diesem Umgang mit der Wirklichkeit verbarg sich der wahre ‚magische Realismus‘ Gisèles.“ Und noch eine Frage möchte der Floh – en passent sozusagen – stellen: Wäre es nicht denkbar, dass mit dem Begriff Mythos etwas behutsamer umgegangen werden sollte? Sonst könnte vielleicht durch die Hintertür bloß ein bisschen Aufhübschen stattfinden, das den Wahrheitsannäherungen aber abträglich wäre!
Doch nun will er sich – nach diesem kleinen Exkurs in den Epilog – dem Anfang dieser Biographie zuwenden:
S. 17 –„Herkunft und Erziehung spielen im Leben eines jeden Menschen eine entscheidende Rolle – bei weitem nicht immer eine positive, doch Gisèle konnte in dieser Hinsicht besonders zufrieden sein. Sie hatte einen stark entwickelten Familiensinn und fühlte sich in ihrem Milieu so behaglich aufgehoben wie in einem Pelzmantel. Dieses warme Gefühl der Verwandtschaft galt nicht nur ihren Eltern. Das Wissen über und die Affinität zu ihren Großeltern und den weiter zurückliegenden Ahnen wurden ihr von Kindesbeinen an vermittelt, so wie es in den höheren Kreisen, in denen sie zur Welt kam, eher die Regel als die Ausnahme war. Gisèle war empfänglich dafür.“
Und
bei dem Floh? Gab es da auch so etwas wie ein „warmes Gefühl
der Verwandtschaft“ in seiner Familiengeschichte?
Wohl kaum. Statt wärmendem Pelzmantel wohl eher Kühlschrank. Weder zu seinen Großeltern, noch zu seinen Eltern hatte er ein zutrauliches Verhältnis. Meist standen oder saßen sie sich schweigend gegenüber. Was hätte man auch sagen sollen? Das Leben der Großeltern, von dem er nur sehr bruchstückhaft erzählt bekam, wenn überhaupt, muss im letzten Viertel des 19. Jahrhundert in Unterfranken genauso wie im Vorgebirge bei Bonn mühsam und entbehrungsreich gewesen sein. Seufzendes Schweigen war darüber ausgebreitet und von den Mühen des Ersten Weltkrieges erst recht keine Spur. Vielleicht ein dunkelbraunes Foto in feldgrauer Uniform. Auch von den Hungermonaten 1916/17 nichts. Vergrämte Gesichter, ja, aber den Enkeln gegenüber höchstens ein Klappern mit den losen Gebissen.
Die Eltern seines Vaters waren von Schwabach nach Siegburg ausgewandert, um in Troisdorf bei Dynamit Nobel Arbeit zu bekommen. Eine Schreinerfamilie war es. Franz Seiler senior, Franz Seiler junior, seien Opa, sein Vater. Anders die Eltern seiner Mutter. Denen gelang es, in Siegburg eine florierende Metzgerei aufzubauen, so dass eine Tochter sogar in den dreißiger Jahren in Köln auf der Musikakademie Gesang studieren durfte. Sybilla Losem. Und wenn der Satz von der entscheidenden Rolle der Herkunft und der Erziehung richtig ist, dann wurden seine Eltern vor und nach dem Ersten Weltkrieg selbstredend im Sinne der schwarzen Pädagogik erzogen, überwölbt von einem herben Katholizismus, in dem Sünde und Strafe sicher die kalten Eckpfeiler des Portals zu den Seelen waren.
In
diesen Echoraum wurde 1945 dann der Floh geboren, noch in den letzten
Wochen der sechsjährigen Schlächterei.
Dazu
passt aus seiner Sicht wie die Faust aufs Auge ein Dürrenmatt-Zitat
zu dessen eigener Kindheit:
„…Nach
eigenem Bekunden hatte Dürrenmatt schon als Kind „diese Empfindung
des
Grausamen,
diese Empfindung des Eingepferchtseins, des Unübersichtlichen, ich
möchte
fast
sagen: Das Empfinden des Minotaurus, der inmitten des Labyrinths
sitzt und nicht
weiß,
was auf ihn zukommt. Ich glaube, ich war ein Kind, das sehr unter
Angstgefühlen
und
darunter litt, dass es sehr viele Dinge nicht durchschaute.“