30 Aug

Europa – Meditation # 288

Angstmache war schon immer hilfreich, wenn einem die Argumente

fehlen, so wie Herrn Söder gestern im Interview.

In der SZ vom heutigen Montag kommt das entscheidende Zitat gar nicht vor, das Söder am Sonntagabend Oliver Köhr um die Ohren haute. Will die SZ den Bayer schonen, Punkte sammeln für nach der Wahl? Man habe doch immer versucht, die konservative Mitte als wählbar dem Leser vorzuführen.

Welches Zitat?

Nun, Söder sagt da u.a. als kleines Orakel für die Zukunft, sollte die Linke regieren, dann wären ganz sicher die Konsequenzen: „…die Idee eines Staates, der die Menschen zwingt, erzieht und der eine klare Absage an Freiheit ist.“ (O-Ton)

Natürlich ist Söder klug genug, es so in den Raum zu stellen, dass Emotionen frei gesetzt werden, die im Umfeld von Zukunftsängsten angesiedelt sind, die den politischen Gegner als nicht satisfaktionsfähig erscheinen lassen; denn wie soll man ernsthaft mit jemanden noch reden wollen, der der Freiheit eine Absage erklärt? Von Zwang und Erziehung durch den Staat ganz zu schweigen.

Dass das alle Parteien, die sich zur Wahl stellen, natürlich nicht tun (sonst wären sie ja gar nicht zugelassen, sie befänden sich ja dann gar nicht auf dem Boden der freiheitlich, demokratischen Ordnung), ist jedem Bürger natürlich klar, aber ein bisschen zündeln, um Emotionen zu schüren, die dem politischen Gegner ordentlich schaden werden, gehört wohl zum Wortgeklimper im Wahlkampf.

Dem Leser der SZ von heute (Nr. 199, Montag, 30. August 2021) ist es aber übel aufgestoßen, dass dieses Zündeln Söders nicht in aller Form als solches bloß gestellt und mit der roten Karte versehen, sondern einfach unterschlagen wird.

Wie das?

Dass zielgerichtete Instrumentalisierung von Emotionen zur Eskalation von Konflikten beitragen kann, erleben wir in Europa doch tagtäglich, wenn z. B. Querdenker sich wortreich einmischen oder AfDler verharmlosend darauf hinweisen, da sei doch gar kein Virus; warum denn dann das ganze Theater mit Grundrechte-Einschränkungen und Bevormundungen?

Wenn jemand jetzt Herrn Söder mit seinem Zitat in die Nähe von Demokratiefeinden stellen würde, dann gäbe es aber ganz schön Rabatz! Es kommt eben immer darauf an, wer unter der Gürtellinie zuschlägt und wie.

Vielleicht ist sich die SZ ja nicht zu schade, dieses unselige Zitat doch noch breit vorzustellen und es gehörig auseinander zu nehmen, damit die Gefühle der Angst beim Leser, bzw. Zuhörer wieder abgebaut werden können.

Denn beim Wählen bedarf es eines klaren und nicht eines vom Zündeln benebelten Kopfes.

29 Aug

Europa – Meditation # 287

Europäer: Weltmeister im Selbstbetrug!

Adorno ( 1903 – 1969 ) – „Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe, worein.“

Und so fügen wir uns. Die Schreiber wie die Leser. Der Bildergarten darf gegossen, Unkraut gejätet und Setzlinge hinzugefügt werden.

In diesen Tagen drehen sich die Bilder um das ferne Afghanistan, das nahe Ahrtal, um Haiti und die oft besungene Westküste Nordamerikas: erbarmungslose Wasserfluten, furchterregende Feuerwände, vernichtende Explosionen und barbarische Beben.

Chaos vs. Ordnung – Wahrheit vs Einbildung – Unfassbar vs gefangen – das Beispiel Afghanistan: die meisten, die darüber etwas schreiben oder lesen, kennen das Land, die Menschen und seine Kulturgeschichte nur vom Hörensagen. Es wird aber vor diesem Hintergrund heftig gestritten um die Deutungshoheit – potemkinsche Luftschlösser eigener Gewissheiten, weiter nichts.

Die Beispiele Haiti, Ahrtal oder Nappa Valley lassen sich ähnlich verdeutlichen: Immer haben wir Europäer schon ein vorgefertigtes Bild in unserer Schublade (Langzeitgedächtnis), mit dem wir aktuelle „Daten“ blitzschnell abgleichen und dann selbstsicher neu bewerten und klar stellen. „Wie unterscheiden sich Al-Kaida, die Taliban und IS-Männer voneinander?“ Die Frage lässt schon erkennen, dass wir mindestens drei Schubladen haben, wo wir sie getrennt unterbringen können. Wie schön aber auch! Den Schrecken, den die jeweiligen Bilder hervorrufen, haben wir gelernt, klein zu reden oder zu überzeichnen. Immer wähnen wir uns als Betrachter und nicht als Teil der Natur, die dieses natürliche Chaos schon immer inszeniert. Als stünden wir über den Dingen -cogito ergo sum!

Horaz ( 65 – 8 vor unserer Zeitrechnung ) – „Dum loquimur, fugerit invida aetas, carpe diem, quam minimum credula postero“ (Noch während wir reden, ist die missgünstige Zeit schon entflohen, pflücke den Tag und glaube so wenig wie möglich an den nächsten!) – Odes, I,11

Horaz und Adorno – Bildungsballast? Nicht unbedingt. Denn beide erinnern uns Europäer daran, dass wir zwar beeindruckende Artisten im fiktiven Salto Mortale sind, aber dennoch nicht wahrhaben wollen, dass wir uns ganz schön was in die Tasche lügen. Einbildungen alles.

Die Kunst haben wir an die Kette gelegt, sie darf zwar unterhalten und begeistern, nicht aber zu ernst genommen werden. Sonst könnten wir sie vielleicht sogar als einzigen Ausweg aus unseren bequemen Denkautobahnen nutzen. Stattdessen beschäftigen wir uns intensiv mit dem Nach-Denken vergangener Kunst-Botschaften oder phantasieren uns in atemberaubende Zukunfts-Szenarien, verpassen dabei aber leichtfertig den gegenwärtigen Augenblick – andauernd. Horaz erinnert daran auf eindringliche Art und Weise.

Und dass die Kunst im Fahrwasser der Kulturindustrie zu einer Ware wie jede andere auch verkommt, mahnt Adorno zu Recht unmissverständlich an. So schütten wir uns mit Aktionismus zu – vor lauter Terminen vergessen wir fast das Regenerieren im Schlaf – und halten das dann für die Wirklichkeit. Dabei ist sie nicht mehr und nicht weniger als hysterische Einbildung, mutwillige Bebilderung dessen, was wir als Realität definieren. Wir unterwerfen uns also leichtfertig Vorstellungen, die uns daran hindern, uns im jeweiligen Augenblick als die Lebewesen zu erleben, die wir eigentlich sind. Tiere, angepasste Lemminge, weiter nichts. Das unterschwellige Unwohlsein dabei betäuben wir hektisch mit Geld, Tempo, Mengen und anderen Drogen und einer leidenschaftlichen und kompromisslosen Selbstverliebtheit.

27 Aug

Europa – Meditation # 286

Flüchtlinge ins europäische Boot holen? Nr. 2

Auf jeden Fall.

Denn vor uns haben wir schwere See demnächst. Nolens volens werden wir in Europa – besser wäre natürlich weltweit – unser ökonomisches Denken und Handeln umstellen müssen. Von „Immer mehr!“ auf „ausreichend ist mehr als genug!“

Mobilität in Ballungsräumen wird dann nicht mehr vom Individualverkehr mit seinen endlosen Staus dominiert sein, sondern von einem öffentlichen Verkehrsnetz, das ohne Fahrer und ohne Emissionen alle von A nach B befördert, kostenlos und Tag und Nacht. Die Autoindustrie wird also ordentlich schrumpfen, fossile Kraftstoffe werden ruhen.

Dafür benötigen wir aber an anderen Stellen viel mehr menschliche Tatkraft und Phantasie als bisher: In Schulen mit kleinen Klassen, in landwirtschaftlichen Betrieben, die auf vielen kleinen Flächen intensiv und ökologisch bewirtschaftet werden.

Und der gesamte Dienstleistungsbereich muss kleinteiliger und personell dichter gestaltet werden – europaweit. Dann können sowohl kleine Kinder als auch Alte und Kranke menschenwürdig und heilsam begleitet werden.

Die Angstmacher vom Dienst „Arbeitslosigkeit wird uns überrollen!“ können wir dann im Geschichtsmuseum ausstellen lassen, sie haben längst ausgedient.

Und damit in Afrika nicht das gleiche geschieht wie in Afghanistan, sollten die Europäer auch dort ihr Militär abziehen. Tschad, Burkina Faso, Niger, Mali und Mauretanien werden aus eigener Kraft ihre Länder befrieden müssen. Herrschaftsreligionen bringen den Menschen keinen Trost – sie sind Brutstätten von Gewalt und Menschenverachtung. Das haben die Europäer in vielen Jahrhundert sehr schmerzhaft selber lernen müssen.

Es ist viel zu tun, wenn Europa noch eine Zukunft haben möchte. Jeder, der dabei mithelfen will, sollte da gerne ins europäische Boot geholt werden. Da hilft es auch nicht, den schwarzen Peter weiter zu reichen. Jeder von uns ist mit seinem Anteil dabei, die Waage in die eine oder die andere Richtung sinken zu lassen.

„Gewogen und für zu leicht befunden“ – das wäre ein trauriges Urteil der nächsten Generationen, wenn sie auf uns Heutige zurückschauen werden. Solidarisch aber können wir die Kräfte und Begabungen freisetzen, die nötig sind, das gemeinsame Boot doch noch aus den Untiefen technokratischen Größenwahns heraus zu lotsen. Ist von solchen Überlegungen in den Wahlprogrammen etwas zu lesen? Nein. Das heißt, wir werden nicht nur unser Wirtschaftssystem radikal ändern, sondern auch unser politisches System wieder selbst in die Hand nehmen müssen. Repräsentanten unseres politischen Willens sind ebenfalls ein Auslaufmodell. Groß denken heißt dann, gemeinsam viele kleine Brötchen zu backen, damit wir nicht nur in Europa zu weitsichtigen Überlebenskünstlern mutieren.