28 Aug

Europa – Meditation # 353

Wir – Kinder unserer Zeit – wie ehedem auch Karl May – wie Herodot und Tacitus auch…von Golo Mann ganz zu schweigen!

Angesichts der Verwerfungen, die dieser Tage dank Pandemie, Krieg und Klima-Amok-Lauf global unerbittlich auf die Erdlinge wie ein riesiger Tsunami los stürmen, ist es zwar verständlich, dass alle nach dem Schuldigen suchen, der natürlich immer der andere ist, aber dennoch gilt nach wie vor das Kant‘sche „sapere aude!“ , denn die Vielfalt und die zahllosen Augenblicke lassen sich einfach nicht über einen Leisten moralisierender Saubermänner schlagen; so etwas wie Kontrolle über die „Wirklichkeit“ ist wie Sisyphus-Arbeit an eigenen Narrativen, die einfach stimmen müssen, weil es ja die eigenen sind.

Stellen wir mal ein paar Knaller-Fragen an gewohnten Denkmuster:

1. Sollten wir nicht besser Homer vom Sockel stoßen, weil er Gewalt und patriarchalisches Denken in den Mittelpunkt seiner Mordgeschichten stellt und Frauen nur als um ihre Söhne trauernde oder Witwen am Rande vorkommen? Auf den Index und raus aus den Literaturlisten weiterführender Schule!

2. Sollten wir nicht unbedingt Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250) nachhaltig aus der positiven Geschichtsschreibung verbannen, weil er nicht nur einen Säugling herzlos verhungern ließ, sondern auch den eigenen Sohn gefühllos in den Tod trieb? Er war nur insofern „das Staunen der Welt“, als er Gewalt und Selbstverherrlichung straflos so lange in Europa zelebrieren durfte. Also: in allen Geschichtsbüchern umgehend diese Biographie schwärzen! Statuen niederreißen in allen Bundesländern, sowie in Österreich und Sizilien!

3. Sollten wir nicht endgültig Martin Luther gnadenlos ächten, weil er den Antisemitismus so gesellschaftsfähig machte, dass selbst Alfred Stöcker von der Hofkapelle in Potsdam aus seine Judenfeindschaft in jeder Predigt heraus posaunen durfte, so dass die schlimme Botschaft auch in der Garnisonskirche widerhallte, 1933? – Luthers Bibelübersetzung gehört also auch auf den Index verbotener Bücher und seine Bilder und Statuen müssen selbstverständlich alle weg in Keller und feuchte Archive.

4. Sollten nicht alle Adenauer-Denkmäler (genauso wie alle Bismarck-Monströsitäten landesweit – hat er doch in der Berliner Konferenz von 1884/Ihr Schlussdokument, die Kongoakte, bildete die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien im folgenden Wettlauf um Afrika. / maßgeblich mit am Rassismus der Weißen Schuld ) abgebaut werden, weil er nicht nur Gehlen zum Chef des BND machte, sondern noch viele andere Persilschein-Beamte in den neuen Ministerien vereidigen ließ und sollte nicht deshalb auch die CDU und die CSU gezwungen werden, ihren Namen zu ändern?

Wird deutlich, wie kurzschlüssig und borniert solch ein Ansinnen ist?

18 Aug

Europa – Meditation # 352

Bilder und Überschriften zerrinnen zu nichts.

Urteile statt Ansichten – wie wir uns die Welt zusammen dichten, als wäre sie bloß Knete, die auf unser Formtalent gewartet hätte. Das gilt wohl im Kleinen wir im Großen: unsere eigene Biographie und die der anderen modeln – bzw. mogeln – wir uns schön stromlinienförmig, in dem wir immer wieder von Neuem alte Geschichten neu erzählen, als würden sie gerade erst gefunden. Nicht erfunden; so kommentieren das immer nur schlecht gelaunte Besserwisser.

Wer möchte schon gerne heutzutage an die Bilder erinnert werden, die Tag für Tag im Zeitalter des Kalten Krieges über die sogenannte DDR uns eingetrichtert wurden, wer die heutigen in Frage stellen?

Mal war die Atlantische Freundschaft „overwhelming“, mal „hochnotpeinlich“ – je nach dem, wer gerade die Medien mit seinem Bildervorrat zu fluten verstand. Wir ängstlichen Lemminge aber schlürften sie wie Nektar und Ambrosia. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit waren da eher rein zufällig, aber was soll‘s?

Schon stürzte der nächste Turm ein, schon changierte das Lästern über das Desaster der Roten Armee in Afghanistan zu reinster Verlegenheit, als sich die Unterstützung der Taliban als übles Eigentor entpuppte, das mit einem schmählichen Abzug gut zwanzig Jahre später und so vielen tragischen Toten auf allen Seiten endete. Gestern sozusagen. Wir unglaublich stark hatten sich die Berichterstatter im Beschreiben der „humanen Mission“ gesehen und wie willig schluckten wir diese Botschaften als Unterstützer der Streiter für eine bessere Welt. Wie maßlos „home-made“ war diese Sicht der Dinge. Doch das alles Schnee vom letzten Jahr, selbst die Pandemie – Bergamo lässt grüßen wie aus einem Horrorfilm, den Hollywood millionenfach in Szene gesetzt zu haben schien – ist heruntergebrochen zu einem Text auf Seite drei oder vier; nun sind die Lemminge wieder bei ihrem Lieblings-Narrativ angelangt, dem Krieg. Galt in der BRD nicht bis vorgestern Rüstung als besenkammerreif? Schmückten wir uns nicht gerne – die Narrative sind Legion – im Weltmaßstab als die Weltmeister der gewaltfreien Parlamentäre, die in zähem Verhandeln wahre Zauberkünstler der Kompromisse zu sein schienen? Wer möchte daran jetzt noch erinnert werden?

Krankheit und Tod treten folgsam in die zweite Reihe, denn das Narrativ für den Herbst heißt nun – wie Phönix aus der Asche – sparen, um ja nicht im Winter frieren zu müssen. Ein neues Horrorszenario wird da im Pixel-Himmel beschworen. Die Flutwelle im Ahrtal ist plötzlich so weit weg, die leer laufenden Flüsse sind dagegen nun wie ein Menetekel für den zürnenden Wettergott, der seine weiter unverdrossen um das goldene Kalb tanzenden Irrwische züchtigen wird, erbarmungslos – wie im Alten Testament.

06 Aug

AbB – Erneute Annäherungsversuche # 6 TEIL 2

D e r Z i e g e n m a n n

T e i l 2

Inkognito – der Ziegenmensch unterwegs

Der ehemals so gut gelaunte und lebensfrohe Gott kann sich selbst kaum mehr an all die Feste erinnern, die er mit seinem Gefolge unter den Menschen aller Erdteile feierte. Es ist schon so lange her.

Nun aber ist es genug.

Zornig, mit zwei Hörnern auf der Stirn und Ziegenfüßen, zieht er ziemlich abgerockt und verloddert alleine durch die Welt. In zerfetzten Kleidern aus Ziegenmaterial. Seine ehemaligen Freunde und Gefolgsleute sind längst auf der Strecke geblieben. Und in seinen Augen blitzt Unwille ziemlich bedrohlich auf: Er hat das Gefühl, dass die Menschen, die ihm ehedem freudig opferten (Feldfrüchte noch und noch, Trauben, Blumen, Beeren), nach dem Konzept der „verbrannten Erde“ unterwegs sind und die Natur strangulieren, als gäbe es danach reichlich Ersatz. Es scheint ihnen unbändige Freude zu machen, nicht nur sich selbst, sondern auch gleich die gesamte Natur mit in den Abgrund zu reißen. Wenn er ihnen begegnet, erkennen sie ihn nicht mehr. Sie haben nur noch Zeit für sich selbst und ihre Schminke. Grotesk sehen sie aus, geliftet, wie sie das euphorisch nennen. Geliftet!

Dabei fährt ihr Lebenslift längst nicht mehr nach oben, sondern in rasendem Tempo in den Keller, die Unterwelt – früher dachten sich die Menschen, dass dort ein großes Feuer lodert, heute erfrieren sie in der Tiefe an ihrer eigenen Gefühlskälte.

Was soll er machen?

Wie könnte er sie wach rütteln?

Wie zur Umkehr bewegen?

Seit den fünfziger Jahren hat auch der Floh immer wieder die falschen Verlockungen um sich herum abwehren müssen. Trotzig und wortkarg leistete er eigensinnig Widerstand. Er verweigerte sich dem großen Konsumtanz um das goldene Kalb des „immer mehr!“ und inszenierte zum Wohlgefallen des alten Gottes ein Theaterstück nach dem anderen. Und der Glanz in den Augen der jungen Leute, die da auf der Bühne zu zaubern verstanden, und der Glanz in den Augen der Zuschauer, die sich gerne verzaubern ließen, war jedes Mal ein Augenblick phantastischer Seinsgewissheit im Jetzt, das den Verlockungen der Warenwelt ohne Not zu widerstehen wusste.

Das gefiel dem zornigen Ziegenmenschen, der da inkognito durch die Lande zog: Na also, es gibt sie also noch: die verkehrte Welt scheint nur die Norm zu sein, in Wirklichkeit lebt aber in jedem jungen Menschen immer wieder von Neuem der Wunsch nach Selbstverwirklichung im Hier und Jetzt, jenseits der toten Dinge, inmitten der fulminanten Begegnungen von Mensch zu Mensch – im Theater, im Tanz, in der Musik, in der lustvollen Vereinigung, wie die innere Natur es sich immer und immer wieder wünscht.