06 Mai

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 180 – Leseprobe

Somythalls Tagtraum im Land der Schmerzen.

Sie hat Durst, Hunger, Schmerzen, Angst. Auf feuchtem Stroh liegt sie im Keller des Stadtpräfekten von Augusta Treverorum. Sie fleht zu ihrer Göttin: Hilf mir, bitte! Ein unwirkliche Stille umgibt sie. Als wären die Geister, die einst dieses dritte Rom vibrieren ließen, müde schlafen gegangen, als wären die Hunnen nie hier gewesen, als wären die stolzen Senatorenfamilien alle ausgestorben, als wäre die lange Reise, die sie mit Rochwyn von YRRLANTH bis an den Rhein gemacht hat, nur ein schwerer, langer Traum gewesen. Sie bricht in Tränen aus, als sie den Namen Rochwyn im Erinnern aufruft. Und hilflos wird sie nun überspült von weiteren Namen und Menschen, die ihr begegnet sind: Ihre Großmutter, Voegrun, Julianus. Und was ist mit Sumila, ihrem kleinen Töchterchen? Was mit Pippa? Hier im dunklen Verlies überfällt sie ein übermächtiges Begehren nach Leben, Freude, Singen. Dann birst Zorn aus ihr heraus: Diese Franken! Sie brauchen jemanden, der als Täter taugt. Und sie als Fremde, als Frau eignet sich dazu bestens. Da ist niemand, der für sie Partei ergreifen wird. Da sind nur lauter verängstigte Männer, die gerne sehen wollen, wie eine Frau gequält wird. Möglichst arm an Kleidung, möglichst verzweifelt. Damit sie sich wenigstens für einen Augenblick stark fühlen können.

Ich werde ihnen keine Schwäche zeigen, nimmt sie sich vor. Wie ein Fieber geht es ihr durchs Blut: Meine Göttin macht mich stark, sie wird bei mir sein, sie wird mich ihnen entreißen. Ganz sicher. Und ich werde dazu lachen. So geht es ihr im Kopf hin und her, bevor der Schlaf ihr etwas Erholung gönnt.

Später wacht sie erschrocken auf. Da war jemand. Ihr Herz rast vor Angst und Wut. Träume ich das oder täusche ich mich? Sie weiß es nicht. Es ist zu dunkel, um irgendetwas in diesem Kellerloch erkennen zu können. Doch dann sieht sie die Augen, die auf sie zukommen, riecht den schlimmen Atem, spürt die gewalttätigen Hände.

Somythall will sich von ihren Ketten losreißen. Das schmerzt schlimm an den Gelenken. Ich muss schreien. Wie wild schreit sie los: „Pippa, Pippa komm, hilf mir!“ Sie schreit so laut, wie sie wohl noch nie in ihrem Leben geschrien hat. „Weg! Sei verflucht! Mistkerl!“

Ihre Stimme überschlägt sich, sie tritt um sich, rollt sich hin und her, schreit noch lauter. Ihre hohe Stimme hallt am Kellergewölbe wieder, kriecht durch die kleinen Öffnungen hinaus ins Freie, in die stille Nacht und fährt wie ein Blitz durch die Nachtruhe. Der Angreifer hat damit wohl nicht gerechnet. Aber er spürt, dass diese kreischenden Töne ihn verraten werden. Grunzend und fluchend lässt er von ihr ab, stolpert zum Ausgang, die Steintreppe hoch. Aber oben sind bereits die Wachen aufgewacht, haben Fackeln entzündet, stellen sich ihm in den Weg.

„Halt!“ rufen sie wild entschlossen; sie werfen ihn zu Boden.

Somythall atmet schwer unten im Verlies. Die Göttin hat ihr die Kraft gegeben, so zu schreien, wie sie noch nie geschrien hat. Als sie sich jetzt zitternd an die Kehle fasst und sich räuspert, wird ihr klar, dass sie kaum noch Stimme hat. Aber es hat sie gerettet. Sie hat sich selbst gerettet. So kommen ihr trotzige Tränen. Wartet nur, ihr werdet schon sehn!

05 Mai

Europa – Meditation # 392

Ein unmöglicher Vergleich.

Wie war eigentlich die Stimmung – so kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges?

Wie war eigentlich die Stimmung – so kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs?

Wen interessiert das denn heute?

Niemanden.

Schade.

Denn es könnte sonst vielleicht zum Nachdenken anregen, wie die Stimmung in Europa – so kurz vor Beginn des nächsten Krieges ( den, den die Natur gegen Europa und den Rest der Welt führen wird) – zur Zeit eigentlich ist.

Rückblende: Mai 1914 – Die Europäer strotzen nur so vor Selbstvertrauen. Stärke ist die Währung der Stunde. Alle fühlen sich europaweit auf der Straße des Erfolgs – politisch, ökonomisch, kulturell. Und jede Nation glaubt, der anderen weit überlegen zu sein. Krise? Na wenn schon, wir sind gewappnet, wir sind die Stärkeren, wir fürchten uns nicht!

Dann kam der Krieg, den man in Deutschland für einen Spaziergang nach Paris hielt, ein kurzes Abenteuer, das noch vor Weihnachten siegreich beendet sein würde!

Es wurden bittere, sehr bittere vier Jahre, ein so noch nie da gewesener, mörderischer Krieg in ganz Europa, mit einem Ende, das sich 1914 niemand hätte vorstellen können. Und statt eines Kassensturz bastelte man fix an einer Legende – und schon konnte man mit Fingern auf die „Schuldigen“ zeigen.

Rückblende Mai 1939 – Die Europäer überbieten sich im Beschwichtigen, die Deutschen freuen sich auf einen schönen Sommer am Meer; dass im September ein Krieg losbrechen würde, der den vorherigen noch um vieles übersteigen würde, das konnte und wollte sich niemand vorstellen. Der Mann auf der Straße wollte doch keinen Krieg, er wollte seine Ruhe, sein Auskommen – es ging doch endlich bergauf – oder?

Rückblende Mai 2023 – Die Europäer sind Zuschauer bei einem Krieg im Osten Europas. Energieengpässe, Inflation – wenn nur der Sommer endlich mal wieder so richtig genossen werden kann, nach drei Jahren Pandemie mit all ihren Einschränkungen! So schauen alle aufs Portemonnaie – doch der eigentlich Krieg, der allen unausweichlich ins Haus steht, den will man einfach nicht wahrnehmen! Carpe diem – ist die Losung. Unglaublich!

04 Mai

Europa – Meditation # 391

J a v i e r M a r í a s meldet sich zum Thema „Krieg“ zu Wort

Während die moralisch Empörten eng zusammen stehen, die einen Verteidigungskrieg führende Ukraine militärisch massiv unterstützen und diese Position gebetsmühlenartig für alternativlos betonieren und die zu Defätisten erklären, die eine abweichende Sehweise favorisieren oder sie gleich strengstens disqualifizieren als unzumutbare Querdenker – AfD nah, versteht sich – laufen die Maßstäbe für eine gewaltfreie Welt mehr und mehr aus dem Ruder: Nur wer das gegenseitige Töten unbarmherzig mitträgt, gilt als satisfaktionsfähig. Der Ehrenkodex der Waffenindustrie wird so zum Grundmuster der Gestaltung von Konflikten. Die abweichenden Positionen sollen marginalisiert wirken – doch: sind sie es auch?

Ist die Formel im von den Alliierten besetzten ehemaligen Deutschen Reich:

„N I E W I E D E R K R I E G“

aus den Jahren nach 1945 – nach mehr als 50 Millionen Toten (!) weltweit – also eine naive, zeitgebundene Sehweise, die wir möglichst schnell wieder vergessen sollten, weil sie so peinlich ist?

Javier Marías liefert in seinem letzten Roman – er starb kürzlich unerwartet an den Folgen der Pandemie – einen Beitrag zu dieser heftigen Debatte, die uns Europäern zu denken geben könnte: „Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher.“

Angesichts einer nicht nachprüfbaren Berichterstattung im Kriegsgebiet und im Feindesland wäre es wünschenswert, wenn wir unsere eigenen Berichte und Kommentare dementsprechend vorsichtig und offen gestalteten, um nicht in diesem Sog von Täuschung und Verrat mit verschlungen zu werden.

Denn die, die am Krieg gewinnen, halten sich selbstverständlich vornehm zurück und konsultieren lieber die eigenen Kontoauszüge, statt sich als die eigentlichen Gewinner bloßstellen zu lassen. Und da die Emotionen hoch gehen, der Blick verdüstert, benebelt oder hysterisch aufgeheizt nur noch schemenhaft das Thema in den Focus bekommt, lassen wir den spanischen Autor Javier Marías zur Sache sprechen, damit die Temperatur vielleicht wieder ein bisschen sinkt und Raum und Zeit entsteht, die eigene, festgefahrene Position – zumindest probeweise – in Frage zu stellen:

„Der Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher. Und ich war noch weiter gegangen: „In manchen Situationen kann man unmöglich nach dem Gesetz handeln oder bei jeder Initiative um Erlaubnis bitten. Wenn der Feind das nicht tut, verliert und scheitert immer der, der Skrupel hat. So ist das im Krieg, seit Jahrhunderten. Dieses moderne Konzept der ‚Kriegsverbrechen‘ ist lächerlich und dumm, denn der Krieg besteht in erster Linie aus Verbrechen, an allen Fronten und vom ersten bis zum letzten Tag. Also eins von beiden: Entweder man geht unter, oder man ist bereit, die entsprechenden Verbrechen zu begehen, die für den Sieg vonnöten sind oder einfach nur zum Überleben.“

(aus Javier Marías – Tomás Nevinson. Roman 2022, S. 634)