20 Jul

AbB – Erneute Autobiographische Versuche # 64 – Leseprobe

Der verführerische Flipper-Automat.

Apropos Irritationen: Lange genug hat ihn als junger Mensch die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der um ihn herum die Erdlinge sich und die Welt wortreich zu deuten wussten, nicht nur irritiert, sondern auch richtig auf die Palme gebracht. Wie konnten die sich alle so sicher sein bei ihren Behauptungen, Deutungen, „Analysen“?

Hatte nicht schon Lukrez vor gut zweitausend Jahren in seinem poetischen Text „De Rerum Natura“ ein viel naheliegenderes Angebot gemacht? (das „natürlich“ ex cathedra auf den Index verbannt wurde, bis es zu Beginn der Neuzeit zufällig wieder entdeckt wurde!)

Wie bei einem Flipper-Automat, bei dem der Spieler glauben mag, nachhaltigen Einfluss auf den bizarren Lauf der Kugel nehmen zu können, die aber völlig willkürlich, randomisiert, fällt und fällt, anstößt, vom Impuls des Spieler irritiert weiter fällt und fällt – nach völlig zufälligen Zusammenstößen, Verzögerungen, Beschleunigungen, bis sie von da nach da einfach so zum Ende stürzt und verschwindet, so beschreibt auch Lukrez die Bewegungen der Atome, die sich zufällig begegnen, dadurch ihre Bahnen unvorhersehbar verändern, bis sie bei neuen Kollisionen aufs Neue wieder in eine andere Richtung fallen, immer in Bewegung, immer alles neu verortet im schier ortlosen All, das schweigend und kalt diesem tollen Treiben zuschaut. Die kleinsten Veränderungen erzeugen so unablässig die größten Wirkungen, weil alles mit allem zusammenhängt und nichts verloren geht, aber stets alles fließt und fließt. Unüberschaubar, unberechenbar. Unterwegs.

So geht es auch den Erdlingen, dieser wunderbaren und zufälligen Verbindung von Atomen, die dummerweise aber mit Verstand geschlagen sind, den sie übereifrig benutzen, um sich und die unendlichen Bewegungen um sich herum in geordnete, rationale Muster zu bannen, denen sie Namen geben und Berechenbarkeit attestieren, reiner Mutwille doch. Sie wiederholen einfach so lange ihre wortreichen Deutungs-Flipper-Spiele, bis sie vergessen haben, dass es randomisierte Einbildungen sind, nach denen sie sich ein Leben lang richten. So erscheint ihnen die unvorhersehbare – weil zufällige – Begegnung ihrer selbst mit anderen und der Welt ein Schachspiel, das man lernen und beherrschen kann. Stolz wähnen sie sich dann als König oder Dame über dieses Spiel unterwegs zu sein, das aber dennoch weiter so läuft, wie es eben läuft: Zufällig, wahllos, ziellos und endlos in Bewegung. Ein blendendes Feuerwerk an Willkür eben. Sonst nichts.

05 Jul

Europa – Meditation # 404

Die frohe Botschaft – oder eine Drohung? ( 2.Teil )

„Alles wird sich ändern“ eine große Überschrift im internet am 03-07-23 zu lesen – wie banal ist das denn? Klingt doch gut – oder? Oder sollen wir das Fürchten lernen?

Dabei ändert sich doch schon immer alles unablässig, nur können wir Erdlinge das oft nicht so sehen (oder wollen es lieber so nicht sehen), weil wir nur sehr flüchtig in diesem Chaos auftauchen und bald schon wieder verschwinden. Aber für die kurze Phase unseres Wahrnehmens haben wir – sehr phantasievoll und erfinderisch und wohl auch aus Gründen des Selbstschutzes – viele Wortgebilde erfunden, um diese rapiden Veränderungen scheinbar zu verstetigen. Begriffe, Abstrakta.

Wenn wir nun die letzten 78 Jahre zurück schauen, könnten wir bei ruhiger und gelassener Betrachtung leicht feststellen, was sich nicht alles plötzlich und oft auf völlig unvorhergesehen geändert hat.

Hier nur ein paar Beispiele:

1. Abschaffung der DM – wer hätte das gedacht!

2. Ende des Kalten Krieges – wer hätte das für möglich gehalten?

3. Ein neuer Krieg am Rande Europas – wer hätte es sich vorstellen können

4. Das Schrumpfen der Kirchengemeinden – oh Gott, oh Gott!

5. Die plötzliche Wiedervereinigung – als Schiffbruch – schade

6. Der Individual-Verkehr in den Städten – wie soll das denn gehen?

7. Die Wachstums-Ideologie – und wie soll die Alternative denn aussehen?

8. Die Pandemie – im Nachhinein weiß es jeder besser!

9. Der Konsum-Wahn – und wenn dann alle arbeitslos sind?

Lauter Abstrakta, die wie in Stein gemeißelte Wahrheiten anmuten sollen, damit auch alle sie schön für wahr und unabänderlich halten können. Doch:

alles sind bloß vorübergehende Erfindungen, um Menschen in bestimmte Richtungen zu steuern, damit die Steuernden davon profitieren.

Und deshalb können sie auch jederzeit wieder abhanden kommen, verschwinden, wenn nur der Leidensdruck groß genug ist – wie nach einer Katastrophe, nach einem Krieg, einer Epidemie.

(wobei das Ahrtal ein Beispiel dafür ist, wie selbst der erlebte Leidensdruck nach gebührender Trauerzeit in die Wüste geschickt werden kann und die alten Fehler unter neuen Vorzeichen wieder einbetoniert werden.) „Alles wird sich ändern“, ist also nichts anderes als eine Leer-Formel, an die wir uns klammern, die wir aber auch sofort wieder fallen lassen, wenn wir es für profitabel, günstig, richtig und rettend halten.

Die ordentliche Einteilung der sichtbaren Welt in links, rechts, grün, braun, farblos ist und bleibt reine Mutwille, an den wir uns klammern, bis uns eben wieder etwas Neues einfällt – vor allem wenn um uns herum plötzlich Müll-Container, SUVs und Uhrenläden brennen.

Eigentlich also ein geeigneter Augenblick, Überkommenes fallen zu lassen und mit kleinen Dosen gemeinsam in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen, in der wir uns weder von Katastrophenszenarien noch von Welterlösern beeindrucken lassen, sondern die Dinge um uns herum selber in die Hand nehmen. Solches findet nämlich nur nicht statt, so lange wir nicht damit beginnen. So einfach ist das – und ganz ohne abstrakten Überbau.

03 Jul

Europa – Meditation # 403

Die frohe Botschaft – oder eine Drohung? (1. Teil)

„Alles wird sich ändern“ eine große Überschrift im internet am 03-07-23 zu lesen – wie banal ist das denn?

Soll das eine Drohung sein oder ein Wechsel auf die Zukunft? Das klingt so, als wäre das, was ist, beständig, hartnäckig langlebig und widerstandsfähig gewesen.

Als wenn sich nicht unablässig sowie so alles ändern würde! Wir selbst vorneweg, wir Erdlinge. (Warum haben denn Schönheitschirurgen Hochkonjunktur? Um die Veränderungen hinter einer Maske zu verbergen – was für ein erbärmlicher Aufwand, und wie teuer und wie unnatürlich! Und wie vergeblich!) Nur unsere Sprachgebilde – die wir ja auch selbst für uns erfunden haben – verführen uns immer wieder dazu zu glauben, es gäbe Dinge, die andauern. Nur weil Tag und Nacht immer wieder sich abwechseln, ist doch jeder Tag und jede Nacht völlig anders als die vorherigen. Zahlen, die immer wiederkehren, können uns lautlos, aber nachhaltig dazu verführen, zu glauben, sie beschrieben das Gleiche, wenn sie als Zahlen wieder an andere Stelle auftauchen. Selbst jeder Geldschein, jede Münze ist nicht wie die gleiche daneben, sie ähneln sich nur so sehr, dass wir sie für dieselbe halten. Und das tut der Seele, der zappelnde, natürlich sehr gut, möchte sie doch dem Augenblick Dauer verleihen, Verlässlichkeit in diesem unbeschreiblichen Chaos zu garantieren, das uns – permanent in Bewegung – immer wie ein Kaleidoskop umgibt. Scherben, die wir gerne als stabile Ganzheiten betiteln, um der Angst vor der Flüchtigkeit allen Seins sichere Zufluchtsorte entgegen zu phantasieren.

Wie hieß doch gleich der Film von Alexander Kluge 1968? „Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“. Das passt zu uns Erdlinge immer noch ausgezeichnet, wenn wir ehrlich wären.

Was aber von dem, das wir für beständig halten, müsste sich denn ändern (neben dem natürlichen Veränderungsprozess von allem und jedem!)?

Wie wäre es denn, wenn endlich die etablierten Parteien aufgelöst würden, um regionalen Vereinigungen auf Zeit Platz zu machen?

Wie wäre es denn, wenn die repräsentative Demokratie ins Museum geschickt würde, um variablen Formen direkter Demokratie Platz zu machen?

Wie wäre es denn, wenn die übergroßen Parlamente (meistens sind die Sitze bei den Sitzungen sowie so nicht besetzt – oder man starrt auf sein Handy – und war eine gewisse Frau Merkel da nicht schon Wegbereiterin?)

Wie wäre es denn, wenn jeder in seinem privaten Bereich begänne, umweltverträglich zu agieren, statt auf „die da oben“ zu warten?

Nur, um mit ein paar Beispielen für moderaten Diskussionsstoff zu sorgen!