Europa – Meditation # 194
So könnte die Geschichte des Planeten auch erzählt werden.
Was sind denn jetzt diese hohlen Gebilde, die wir Moscheen, Synagogen oder Kirchen nennen, anderes als nach außen gestülpte, entleerte Geschwülste, die wie ausgetrocknete Eiterpickel aus der Erde gepresst werden? Die öde Stille und Leere in ihnen ist Ausdruck der leer laufenden Formeln ihrer Vorbeter. Was sonst?
1882 klang das dann etwa so: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe der Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“
Und schon auf der nächste Seite heißt es dann:
„Ein gefährlicher Entschluss. – der christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht.“
Die Menschen meinten tatsächlich, sie seien die wahren Götter – Cartesianer eben – die nur noch nicht so recht zu ihrer Macht und Herrlichkeit zu stehen verstanden. Aber die Europäer waren lernfähig. Schnell und nachhaltig lernten sie ihr neues Credo umzusetzen: Macht euch die Erde untertan – nicht als Gottes Botschaft, sondern als die Botschaft des aufgeklärten, rationalen homo sapiens sapiens. Nach und nach eroberten sie die Welt und machten sich die fremden Wesen gefügig oder überflüssig. Bis jetzt. Nun scheint sie siech und ächzend. Die Erlösungs-Phantasien platzen wie billige Seifenblasen.
Noch einmal die Stimme aus dem 19. Jahrhundert:
„Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt; ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.“
Das erleben die Cartesianer, die wir weltweit nun alle sein sollen, allzu hautnah in diesen Tagen: Mit klopfendem Herzen starren sie auf Statistiken, Tabellen, Kurven und Prozentwerte, als könnten die Zahlen uns die Antwort geben auf unsere Not. Dabei bleiben sie in Wirklichkeit immer nur im Vorhof des Lebens, wie ein Türabtreter lassen sie sich nutzen, doch über die Schwelle ins Leben und in den Tod wissen auch sie keine Antwort. Als kleine Provokation für offene Ohren deshalb hier ein Zitat von Novalis, ebenfalls aus dem 19. Jh.: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Je poetischer, je wahrer.“ Habe Mut zu irren!