12 Jul

Europa – Meditation # 208

Wolkenkuckucksheim lässt grüßen

oder

wie ein junger Philosoph redend die Welt verändern möchte.

Mit Hilfe der findigen Erfindung Sprache formen wir Menschen – einer besonderen Gattung aus dem Tierreich – die Bilder, mit denen wir uns die Welt scheinbar verfügbar und erklärbar machen. Schon lange. Wie die Hirsche röhren wir unsere wichtigen Botschaften in die Welt, die wir gerne so sehen wollen, wie wir sie eben wollen. Und wie schön uns das Echo zu bestätigen scheint. Europa at its best.

Und in diesen Tagen raschelt es besonders wild im Bilderwald. Ein junger Philosoph aus Bonn macht endlich einmal Nägel mit Köpfen – Platon, Nietzsche & Co erbleichen vor Neid – indem er uns den Spiegel vors Gesicht hält und tönt: Das Weltgeschehen ist aus den Fugen, eine Zeitenwende steht ungeduldig vor der Tür. Wirklich wahr? Zeitenwende, Weltgeschehen. Ja. Der ersten These folgt flugs die zweite: das kollektive Bewusstsein verändert, verschiebt sich. Das kollektive Bewusstsein! Was ist das denn? Aha, Erdrutsch oder so ähnlich. Es lässt sich trefflich mit großen Bildern jonglieren. Das Publikum schaut fasziniert zu und ist beeindruckt. Weiter, mehr! Jetzt als nächstes Mal so richtig Angst machen: Was uns droht, sei die Selbstausrottung der Menschheit in kleinen Schritten. Wow. Wir stehen vor dem Beginn einer neuen Weltordnung. Abstrakte Begriffe fliegen uns nur so um die Ohren. Fast schon andächtig hören wir zu. Da weiß aber jemand unheimlich Bescheid. Oder?

Und was schlägt unser junger Philosoph aus Bonn als Rettung vor?

Wir müssen jetzt individuell, aber auch als Gemeinschaft das moralisch Richtige tun. Echt? Und was ist das moralisch Richtige, wer weiß es? Ganz einfach, das, was klug ist zu tun, sei auch das moralisch Richtige. Ungenauer geht es wohl kaum.

Wie bitte? Nein, unser dynamisches Sprachrohr wird sogar noch etwas konkreter: Alle Bereiche der Gesellschaft müssten so miteinander verschränkt sein, dass sie gemeinsam auch das moralisch Richtige tun. Wir stünden nämlich in einer „Stapelkrise“ – wie in einem Turmbau zu Babel seien die verschiedenen Krisen aufeinander gehäuft – die wir nur aus einem gemeinsamen Blickwinkel heraus überwinden könnten. Wir verstummen beeindruckt. Gemeinsam, ja. Guter Gedanke.

Dann kommt die Klimax, der Höhepunkt sozusagen: Was ist der Sinn des Lebens? Auf jeden Fall nicht Geld anhäufen und konsumieren, sagt der kühne Philosoph entschieden. Wir müssten die Frage völlig neu stellen: Woher kommen wir, wer sind wir und wohin gehen wir? Völlig neue Fragen, echt! Wirklich? Und da wir gerade durch corona so verunsichert seien, wäre es die Gunst des Augenblicks, eine Moralwelle auszulösen, die alle erfasst und alle an neue Ufer spüle.

Der Leser fragt sich betreten, was ist denn nun das neue Gemeinsame? Was?

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