05 Mai

Europa – Meditation # 392

Ein unmöglicher Vergleich.

Wie war eigentlich die Stimmung – so kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges?

Wie war eigentlich die Stimmung – so kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs?

Wen interessiert das denn heute?

Niemanden.

Schade.

Denn es könnte sonst vielleicht zum Nachdenken anregen, wie die Stimmung in Europa – so kurz vor Beginn des nächsten Krieges ( den, den die Natur gegen Europa und den Rest der Welt führen wird) – zur Zeit eigentlich ist.

Rückblende: Mai 1914 – Die Europäer strotzen nur so vor Selbstvertrauen. Stärke ist die Währung der Stunde. Alle fühlen sich europaweit auf der Straße des Erfolgs – politisch, ökonomisch, kulturell. Und jede Nation glaubt, der anderen weit überlegen zu sein. Krise? Na wenn schon, wir sind gewappnet, wir sind die Stärkeren, wir fürchten uns nicht!

Dann kam der Krieg, den man in Deutschland für einen Spaziergang nach Paris hielt, ein kurzes Abenteuer, das noch vor Weihnachten siegreich beendet sein würde!

Es wurden bittere, sehr bittere vier Jahre, ein so noch nie da gewesener, mörderischer Krieg in ganz Europa, mit einem Ende, das sich 1914 niemand hätte vorstellen können. Und statt eines Kassensturz bastelte man fix an einer Legende – und schon konnte man mit Fingern auf die „Schuldigen“ zeigen.

Rückblende Mai 1939 – Die Europäer überbieten sich im Beschwichtigen, die Deutschen freuen sich auf einen schönen Sommer am Meer; dass im September ein Krieg losbrechen würde, der den vorherigen noch um vieles übersteigen würde, das konnte und wollte sich niemand vorstellen. Der Mann auf der Straße wollte doch keinen Krieg, er wollte seine Ruhe, sein Auskommen – es ging doch endlich bergauf – oder?

Rückblende Mai 2023 – Die Europäer sind Zuschauer bei einem Krieg im Osten Europas. Energieengpässe, Inflation – wenn nur der Sommer endlich mal wieder so richtig genossen werden kann, nach drei Jahren Pandemie mit all ihren Einschränkungen! So schauen alle aufs Portemonnaie – doch der eigentlich Krieg, der allen unausweichlich ins Haus steht, den will man einfach nicht wahrnehmen! Carpe diem – ist die Losung. Unglaublich!

04 Mai

Europa – Meditation # 391

J a v i e r M a r í a s meldet sich zum Thema „Krieg“ zu Wort

Während die moralisch Empörten eng zusammen stehen, die einen Verteidigungskrieg führende Ukraine militärisch massiv unterstützen und diese Position gebetsmühlenartig für alternativlos betonieren und die zu Defätisten erklären, die eine abweichende Sehweise favorisieren oder sie gleich strengstens disqualifizieren als unzumutbare Querdenker – AfD nah, versteht sich – laufen die Maßstäbe für eine gewaltfreie Welt mehr und mehr aus dem Ruder: Nur wer das gegenseitige Töten unbarmherzig mitträgt, gilt als satisfaktionsfähig. Der Ehrenkodex der Waffenindustrie wird so zum Grundmuster der Gestaltung von Konflikten. Die abweichenden Positionen sollen marginalisiert wirken – doch: sind sie es auch?

Ist die Formel im von den Alliierten besetzten ehemaligen Deutschen Reich:

„N I E W I E D E R K R I E G“

aus den Jahren nach 1945 – nach mehr als 50 Millionen Toten (!) weltweit – also eine naive, zeitgebundene Sehweise, die wir möglichst schnell wieder vergessen sollten, weil sie so peinlich ist?

Javier Marías liefert in seinem letzten Roman – er starb kürzlich unerwartet an den Folgen der Pandemie – einen Beitrag zu dieser heftigen Debatte, die uns Europäern zu denken geben könnte: „Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher.“

Angesichts einer nicht nachprüfbaren Berichterstattung im Kriegsgebiet und im Feindesland wäre es wünschenswert, wenn wir unsere eigenen Berichte und Kommentare dementsprechend vorsichtig und offen gestalteten, um nicht in diesem Sog von Täuschung und Verrat mit verschlungen zu werden.

Denn die, die am Krieg gewinnen, halten sich selbstverständlich vornehm zurück und konsultieren lieber die eigenen Kontoauszüge, statt sich als die eigentlichen Gewinner bloßstellen zu lassen. Und da die Emotionen hoch gehen, der Blick verdüstert, benebelt oder hysterisch aufgeheizt nur noch schemenhaft das Thema in den Focus bekommt, lassen wir den spanischen Autor Javier Marías zur Sache sprechen, damit die Temperatur vielleicht wieder ein bisschen sinkt und Raum und Zeit entsteht, die eigene, festgefahrene Position – zumindest probeweise – in Frage zu stellen:

„Der Krieg hat immer in Täuschung und Verrat bestanden, seit dem Trojanischen Pferd, wenn nicht schon früher. Und ich war noch weiter gegangen: „In manchen Situationen kann man unmöglich nach dem Gesetz handeln oder bei jeder Initiative um Erlaubnis bitten. Wenn der Feind das nicht tut, verliert und scheitert immer der, der Skrupel hat. So ist das im Krieg, seit Jahrhunderten. Dieses moderne Konzept der ‚Kriegsverbrechen‘ ist lächerlich und dumm, denn der Krieg besteht in erster Linie aus Verbrechen, an allen Fronten und vom ersten bis zum letzten Tag. Also eins von beiden: Entweder man geht unter, oder man ist bereit, die entsprechenden Verbrechen zu begehen, die für den Sieg vonnöten sind oder einfach nur zum Überleben.“

(aus Javier Marías – Tomás Nevinson. Roman 2022, S. 634)

23 Apr.

Europa – Meditation # 390

Europäer, wie sie in ihren blinden Spiegel starren.

Systole und Diastole, zwei Begriffe, die auch Goethe, der Dichter mit dem klassisch-globalen Blick, gern benutzte, um Prozesse nicht nur in der Natur anschaulich zu beschreiben – auch die Weltgeschichte ist mit diesen beiden Begriffen gut bedient, könnte vielleicht sogar zu einem neuen Narrativ taugen:

Was, wenn wir Europäer rückblickend die letzten 400 Jahre als einen systolischen Moment begriffen, in dem wir meinen konnten – wie mit einem nachhaltigen Einatmen – weltweit alles Fremde zu inhalieren, um es europäischen materiellen genauso wie ideellen Maßstäben unterzuordnen und auszubeuten, so lange der Vorrat reicht?

Und wie dieser Moment „natürlich“ zu einem selbstverständlichen geschichtlichen Geschehen – aus Sicht der Europäer – werden musste, dem dabei völlig, aber gerne entgangen ist, wie zufällig, einseitig, verlogen und kurzfristig diese Seh- und Erzählweise ist: Sie diente und dient lediglich dazu, die gewaltsame und unerbittliche Weltaneignung als Akt aufklärerischer, uneigennütziger und humaner Begegnung zu kaschieren.

So segelten – lange vor der Erfindung der Dampfmaschine – die großen Schiffe der Portugiesen, Franzosen und später noch mehr die der Engländer auf der bald – wie auf einer nassen Autobahn – als natürlicher Verkehrsweg ausgebauten Strecke hin und her und kamen stets reich beladen zurück. Mit Geschichten als Dekoration drum herum, die von lauter maritimen und missionarischen Wohltaten künden mussten. Kolonialwarenläden schossen aus dem Boden. Was für ein hübsches Wort aber auch!

The european and later the american way of life galt als unverwüstlicher und vorbildlicher Gesellschafts- und Weltentwurf – war aber nichts anderes als die selbstgefällige Haltung von knallharten Händlern, die Kasse mit fremden Rohstoffen und billigsten Arbeitskräften machen wollten. So selbstverständlich war den Europäern (und ihre nach Übersee ausgewanderten verarmten und fast verhungerten Auswanderer Generationen) ihr stolzer Blick in den Spiegel, dass ihnen dabei völlig entging, wie trüb, stumpf und schemenhaft das Bild längst geworden war, das natürlich auch in allen Schulbüchern als unwiderstehlich propagiert wurde – und wird.

Was aber nun, wenn nach diesem kurzen Moment der europäischen Systole jetzt im Windschatten der Diastole auf Europa ein Sog von jenseits des gesprungenen Spiegels auf die vergreisten Europäer und Amerikaner zukäme, der zu Lande wie zu Wasser in Siebenmeilenstiefeln und in seidenen Socken genauso unerbittlich und felsenfest von sich und seiner Botschaft überzeugt (wie „gestern“ noch die Europäer) bestehende Absatzmärkte mit clandestiner Gewalt zu übernehmen beginnt? In eleganter Geste vorgetragen und in einer Sprache, die kein Europäer versteht. Ein neues Narrativ, das einfach anstelle des bisherigen treten will und wird, weil es all das mitzubringen scheint, was dem verkalkten Westen abhanden gekommen ist: Eine neue Weltbotschaft, eine neue Seinsweise, eine neue Arbeits- und Gemeinschaftswelt, die aus schierer Quantität in eine völlig neue Weltqualität umschlagen wird – überwölbt von einem Bild einer anziehenden „Mitte“, die wie eine Zentrifuge alles drum herum zu sich hin völlig neu ordnet und unterordnet. Ein Sog eben. (Oder ein Tsunami ohne Wasser?) Für die nächsten 400 Jahre oder länger – oder zwischendrin erscheint als nachhaltige Störung von Systole und Diastole auf dem Welt-Monitor in Großbuchstaben dummerweise: ERRORERRORERRORERRORERROR….