Arnulf, Bischof im ehemaligen Dividorum, zeigt, wie man Gefolgschaft schafft – 1. Reise
Mitten
im Winter? Der Bischof nickt. Mitten im Winter. Das ist die beste
Zeit, dem Bösen ohne Schaden zu begegnen. Pippin macht große Augen,
schaut kurz zu Pippa, die auch völlig ahnungslos vor sich hin
starrt, und fragt dann leise:
„Warum
im Winter?“
Bischof
Arnulf kichert in sich hinein. Was für Angsthasen aber auch. Mit
großer Geste weist er auf den zugefrorenen Fluss.
„Der
Satan hasst die Kälte.“
Pippin atmet erleichtert auf.
„Ach
so, das verstehe ich gut!“ und lacht dazu, als hätte der Bischof
ihm gerade eine lustige Geschichte erzählt. Pippa ist das aber eher
peinlich und verzieht keine Miene. Sie traut dem Bischof nicht über
den Weg. Wenn der mit ihnen eine „kleine Reise“ machen will, dann
kann das nur Schlimmes bedeuten. Sie fühlt es ganz genau, tief in
sich, in ihren Eingeweiden. Als habe sie Steine verschluckt. Lutetia
schläft aber noch. Keiner sieht, wie da drei Reiter die frierende
Stadt verlassen. Arnulf führt die beiden nach Norden. Pippin hatte
schon gedacht, sie müssten schon wieder zu seiner Lieblingsbaustelle
kommen. Es vergeht ja auch kein Tag, dass Bischof Arnulf auf den
Neubau zu Ehren des heiligen Dionysios zu sprechen kommt.
„Dort
werden die fränkischen Könige ihre Grablege finden“ posaunt er
immer wieder heraus. Pippin macht sich große Sorgen in diesen Tagen:
Zwar hat er weiter den Auftrag, im Frühjahr die römische Villa des
Marcellinus bei Cenabum zu vernichten, doch König Chlotar II ist
gerade mit seinem Lieblingsfeind zugange, mit Königin Brunichild,
der Burgunderin. Sie ist seine Gefangene, man munkelt schlimme
Geschichten. Chlotar II hat sie immer gefürchtet. Sie hat klug
taktiert, sich immer wieder aus jeder Schlinge heraus gewunden. Bis
zuletzt. Ob die „kleine Reise“ damit zusammen hängt? Ihm ist gar
nicht wohl. Und Pippa sieht auch nicht so aus, als wäre sie guter
Dinge. Arnulf hält sein Pferd immer zwischen die beiden, so dass sie
keine Gespräche führen können, ohne dass er mithört. Dann diese
Kälte.
Inzwischen
sind sie schon an drei Kommenden des Bischofs vorbei gekommen. Ohne
Halt geht es jedoch weiter. Die Sonne schafft es heute nicht durch
die tief hängende grau kalte Wolkendecke. Die Pferde scheuen immer
wieder, weil ihre Hufe auf Eisflächen ins Rutschen geraten. Die
Decken, die sie sich über gezogen haben, schützen auch nur wenig
gegen die Kälte. Jetzt hält Arnulf an:
„ Wir
haben es bald geschafft. Pippin, du weißt, ich halte große Stücke
auf dich – wie der König ja auch – darum sollte nichts Böses
dich überraschen können. Darum heute diese kleine Reise.“
Pippa
und Pippin schauen sich ratlos an. Was soll das heißen?
Gerade
kommen sie aus einem großen Waldstück wieder auf
eine
freie Fläche. Der Bischof steigt vom Pferd. Pippa und Pippin tun es
ihm gleich. Die Stille, das fahle Tageslicht, die leere
Heidelandschaft vor ihnen, alles lässt ihnen den Augenblick als
unwirklich, als schweren Traum erscheinen.
„Wir
sind da.“ Pippa und Pippin schauen sich ratlos an. Arnulf genießt
ihre Ahnungslosigkeit auf eine sehr erniedrigende Art und Weise. Er
lächelt, macht Gesten, die so etwas wie Leichtigkeit andeuten
sollen. Jetzt geht er voran, die beiden angespannt und voller Angst
hinterher. Dann bleibt er wieder stehen. Es ist, als wären sie in
einer stummen Vorhölle, so kommt den beiden dieser Ort vor – kein
Leben, breit und weit. Frost, sonst nichts. Die kahlen Äste der
Baumreihen, die den weiten Raum begrenzen, blinken in stumpfen
Lichtflecken, die das Eis entlang des Geästs spiegeln. Dämonen,
hier wohnen bestimmt Dämonen, geht es Pippin wie ein Blitz durch den
Kopf. Vor Schreck drückt er Pippas Hand so fest, dass sie leise
aufschreit. Arnulf dreht sich überrascht um zu ihnen.
„Habt
ihr etwa Angst?“ Geringschätzung schwingt in der Frage mit.
„Kommt,
schaut euch das an – danach werdet ihr bestimmt keine Angst mehr
kennen!“
Mit
seiner rechten Hand zeigt er nach unten. Das hatten sie gar nicht
bemerkt. Vor ihnen öffnet sich ein tiefes und weites Erdloch, so
groß wie eine Therme in Luxovium, denkt Pippin. Gleichzeitig muss er
an das Blutbad im Mithras-Heiligtum denken, das er dort angerichtet
hat. Denn jetzt sieht er auch warum. Pippa und Pippin schauen
hinunter und können es nicht fassen. Da liegen unzählige fahl weiß
schimmernde Gebeine, Schädelknochen. Der gesamte Boden ist übersät
damit. Zum Teil sind sie sogar übereinander gestapelt. Pippa glaubt,
dass diese Schädel sie direkt anstarren. Entsetzt fährt sie zurück.
Pippin steht wie angewurzelt da, sein Unterkiefer zittert, sein Atem
stockt.
„Was
hat das zu bedeuten?“ presst er leise aus sich heraus. Pippa ist
wortlos zurück zu den Pferden gelaufen. Jetzt steht sie dort, hält
sich am Zaumzeug fest, streichelt das dampfende Fell ihres Pferdes
und weint.
Vorne
an der großen Grube hält der Bischof von Dividurum währenddessen
einen Vortrag, in gemessenem Ton, als berichtete er über ein Kapitel
aus dem Alten Testament.
„Hast
du nie davon gehört, wie unter Kaiser Justinianus unser strenger
Herr und Gott eine Seuche über uns alle schickte, um uns zu strafen,
weil wir nicht fest genug an ihn glaubten. Mein Großvater, Gott habe
ihn selig, der ja Bischof von Camaracum gewesen war, erzählte uns
Enkelkinder immer wieder die Geschichte von Gottes Strafgericht. Die
Menschen starben wie die Fliegen. Und weil sie nicht mehr zu
beerdigen waren und keiner sie verbrennen wollte, weil sie den Rauch
nicht einatmen wollten und dann auch elend zu sterben, brachten sie
die Toten auf Karren zu solchen Gruben
wie
dieser – weit weg von jeder Ansiedlung oder einem Kloster des
Heiligen Benedikt.“
„Nie davon gehört“ stammelt Pippin, „wann war das denn? Unter welchem Kaiser hier im Imperium?
Arnulf
schaut lange in sein Gesicht. Vielleicht ist Pippin doch nicht mein
Mann, denkt er dabei. Aber er lächelt gönnerisch und legt väterlich
seine kalte Hand auf Pippins Arm.
„Justinian herrschte damals im Osten, in Konstantinopel, seine Feldherrn führten erfolgreich Kriege hier im Westen, vernichteten die Ostgoten, drängten die Westgoten weiter zurück und besiegten auch die Vandalen. Hier gab es nur noch kleine Könige, keine römischen Kaiser mehr, das weißt du doch, oder?“
Pippin
will auf keinen Fall als unwissend dastehen, das könnte ihm jetzt
sehr schaden. Er nickt.
„Chlotars
Vater, wird es wohl noch erlebt haben, denke ich.“
Bischof Arnulf schmunzelt und wiegt den Kopf hin und her. War das jetzt eine gute Antwort oder eher nicht? Pippin ist sich da gar nicht sicher. Aber er reckt sich jetzt, denn das kurze Gespräch hat etwas von dem Grauen weg gewischt, das ihn erfasst hatte. Durchatmen, keine Angst zeigen.
„Nun,
Pippin, du bist mein Gefolgsmann, ich habe dir ein Gut kommendiert,
du hast in Luxovium gute Arbeit geleistet und der König erwartet im
Frühjahr eine weitere Glanzleistung von dir, in dem du uns diesen
eitlen Römer nahe Cenabum aus dem Weg schaffst.“
Pippin
versteht überhaupt nicht, was das alles mit dem hier zu tun haben
soll. Doch zu fragen, traut er sich nicht.
„Da
könnt ihr sicher sein, vollkommen“, erwidert Pippin mit wieder
erstarkter Stimme. „Gut, gut. Das höre ich gern. Das ist auch der
Grund, warum ich euch hier her geführt habe. Es ist mir wichtig,
dass ihr seht, was unser strenger Gott mit uns macht, wenn wir nicht
an ihn glauben und ihm nicht in allem dienen. Er kennt dann keine
Gnade, zumal wir ja immer noch umgeben sind – hier und da zumindest
– von ungläubigen Franken, geheimen Glaubensgruppen und
unbelehrbaren Arianern. Vergesst also die Strafe nicht, die er über
uns ausgießt, wenn wir ungehorsame Christen sind.“
„Ihr
habt mich getauft, ich bin also Mitglied der Gemeinde der Christen
und werde alles tun, dass Gott mit mir zufrieden ist.“
„Genau
das wollte ich hören.“
Arnulf
drückt mit seiner kalten Hand fest Pippins Arm, klopft ihm dann noch
kurz auf die Schulter und wendet sich, ohne noch einen Blick in die
Grube zu werfen, zurück zu den Pferden, wo Pippa immer noch zitternd
steht und weint. Als Arnulf und Pippin näher kommen, wischt sie sich
betroffen die Tränen aus dem Gesicht und blickt beschämt zu Boden.
Doch die beiden Männer verlieren kein Wort, besteigen ihre Pferde
und reiten einfach los. Pippa ist erleichtert und bedrückt zugleich.
Hat sie versagt?