30 Jun

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 76 Leseprobe

„Wir wollen nicht länger diesem Götzen dienen!“

Es ist nur ein sehr kurzer Schlaf, der ihnen gegönnt wird. Ihre Träume sind es, die sie wieder wecken. Als wären ihnen Flügel gewachsen. Als wären sie einer langen Verbannung entlaufen. Emilia ist es, gerade im Augenblick des Aufwachens, als gingen alte Männer hinter ihr her, die sie beschimpfen, bedrohen. Aber sie hat überhaupt keine Angst dabei. Im Gegenteil: Sie lacht, weil diese Männer, je näher sie kommen, umso kleiner werden und ihre Stimmen zu Flüstertönen verebben, die sie nicht verstehen kann. Ihr Lachen aber wird lauter und lauter und weckt sie so aus dem Schlaf. Und neben ihr Elise schlägt auch gerade ihre Augen auf, atmet tief ein und sagt dann zu Emilia:

„Hast du mich gerade gerufen? In meinem Traum gingen wir zusammen spazieren, Arm in Arm. Dabei waren wir umringt von müden Soldaten, die anscheinend erschöpft von einem verlorenen Feldzug zurückkehrten. Wir winkten ihnen zu, aber die Männer lösten sich wie Nebelwesen in Nichts auf. ‚Mich wundert es überhaupt nicht, dass die so lautlos verschwinden‘, war dein Kommentar dazu. Ich schaute dich völlig verblüfft an. Deine Stimme klang so sicher und stark.“

Und Lukimeeló, die zwar noch meint zu schlafen, obwohl Lordum sie gerade behutsam wach küsst, erinnert sich noch genau, wie sie eben einem Bischof im Beichtstuhl im Dom von Florenz ins Gesicht zischte: ‚Wir wollen nicht länger eurem Götzen dienen, diesem unsichtbaren Popanz, diesem…‘ und – als wäre es eine Zauberformel gewesen – dadurch der Mann in seiner lila Soutane schrumpft und schrumpft und gleichzeitig wild gestikulierend und mit rollenden Augen schlimme Flüche der Beichtenden entgegen schleudert.

„Lukimeeló, was hast du denn gerade geträumt?“ fragt Lordum nach dem Weckkuss.

„Ein schrumpfender Bischof verfluchte mich im Beichtstuhl. Ich musste so lachen, weil er wie eine aufgeblasene Puppe zischend Luft verlor und in sich zusammen sackte.“

Und Lordum? Er erinnert sich nicht mehr an seine Träume, obwohl er ziemlich sicher ist, dass auch er geträumt hat. Da kommt die Zauberin, Klipenia, an ihnen vorbei. Sie lächelt vielsagend, winkt ihnen zu und scheint Lordum zu ermutigen, Lukimeeló zu verraten, was in ihm vorging, eben.

„Hör mal, Liebe, deine weichen Lippen entlocken mir Worte und Bilder, von denen ich nicht weiß, wo sie her kommen: Säulen standen in einem Oval über eine weite Wiese verteilt, in der Mitte kichernde Priesterinnen in langen, blauen Gewändern. Dünner Stoff, der mir lustvolle Durchblicke erlaubte. Sie winken mich heran. Und als ich näher komme, bemerke ich, dass sie alle wie du aussehen. Wie kann das sein? Ich hatte ein Gefühl, als badete ich in einem klaren See von Glück. Ich ließ mich treiben. Dein Geruch, deine Haut, deine Seufzer trugen mich, so dass ich nicht untergehen konnte. Weder hatte ich Angst zu versinken, noch dich zu verlieren. Du warst um mich wie Seide, die kühl und schmeichelnd über meinen Körper glitt. Dabei lagen wir auf dieser Wiese – Säulen geschützt – und sahen uns an, als sähen wir uns zum aller ersten Mal. Wunderbar.“

Lukimeeló schließt glücklich ihre Augen. Frau Angst war längst abgereist.

23 Jun

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 74

Ein Atemzug, ein schwerer Blick.

Da überfällt Lordum ein Seufzer. Er weiß nicht, wo er herkommt. Aber schon drängt sich unangemeldet ein Tagtraum hinterher. Er sieht sich in Lucca neben dem Portal des Doms stehen. Er wartet. Worauf? Ein Bote soll ihm einen Brief bringen aus Florenz. Ob es ihr gut geht? Aber der Bote kommt nicht. Tränen kommen stattdessen. Denn er wartet schon viele Wochen auf ein Lebenszeichen von ihr. Warum schreibt sie nicht? Ist der schwarze Tod ihr zu Nahe getreten? Nicht auszudenken.

Wenn er ein Falke wäre, er flöge jetzt zu ihr. Gerade in diesem Augenblick schaut sie in den Abendhimmel in Florenz. Sie wünscht sich so sehr, dass nicht wahr ist, was sie hören musste: Lordum hat auf der Flucht vor dem schwarzen Tod – so jedenfalls wurde es ihr erzählt – zusammen mit seinen Freunden Hochzeit gefeiert. Drei Paare gleichzeitig haben vor dem Pater ihr Jawort gegeben. Es war alles ganz schnell gegangen, sollen Zeugen gesagt haben. Aber da kommt kein Vogel geflogen, mit einem Brieflein im Schnabel. Keine Nachtigall lässt ihre feine Stimme hören. Nichts.

Seitdem ist sie kaum mehr vor die Tür gegangen. Höchstens noch zum Gebet in San Miniato al Monte. Und in ihrem Herzen haben Trauer und Enttäuschung ihre Liebe zugedeckt. Dunkelheit lähmt ihre Gefühl für Lordum. Wie konnte das nur geschehen? Sie wollte ihm schreiben. Aber sie ist gekränkt. Er muss sich melden. Aber er meldet sich nicht.

So vergehen die Tage. Lordum versteht nicht, dass er nichts von ihr hört. Dabei hatten sie sich versprochen, trotz der Trennung stark zu bleiben, zu warten, zu schreiben.

In seinem Tagtraum wird es auch dunkler und dunkler. Die Tränen, die er nicht mehr zurückhalten kann, verwischen ihm die Sicht. Kommt da nicht jemand auf ihn zu? Der Bote? Er möchte, dass es so sei. Er wischt sich die Tränen aus den Augen, doch da ist niemand.

Und als er jetzt trotzig den vorwitzigen Tagtraum verscheucht, bleibt dennoch eine Beklemmung in ihm zurück.

„Was hast du, Lordum?, fragt da Lukimeelo einfühlsam. Sie spürt, dass Lordum etwas beschäftigt. Aber was?

21 Jun

AbB – Neue S e r i e Blatt # 7

Der längste Tag im Jahr.

War nicht gerade eben erst der kürzeste Tag im Jahr? Die Erdlinge, neugierig, wie sie schon immer sind, wollen Tag und Nacht mit aufregenden Geschichten versorgt werden. Und die Medien, atemlos unterwegs, tragen zusammen, was wahr, wahrscheinlich oder auch nur naheliegend sein könnte.

Da wirklich saure Gurkenzeit in Sachen Fußball angesagt ist, wird unvorstellbar Exterrestrisches oder drohende Erdkernglut serviert. Werden wir vielleicht dieser Tage Zeugen eines Sternentodes werden? Als Supernova scheint da etwas zu bestaunen zu sein – viel schwerer und größer als unsere Sonne – (da holt aber jemand einen Super-Superlativ aus der hohlen Hand, wow!) – was sich vielleicht schon vor langer Zeit ereignet hat. Auch Lichtgeschwindigkeit braucht eben seine Zeit!

Wer aber keine Lust auf Sternenhimmel-Spektakel im Großformat hat, der kann sich das Gruseln auch beim Beobachten der Phlegräischen Feldern holen, denn wenn da tatsächlich – so direkt vor der eigenen Tür – der nächste große Vulkanausbruch bevorstehen sollte, dann packen wir am besten schon mal alles zusammen, um auch die besten Bilder davon schießen zu können.

Ein Tauchgang zum Titanic-Wrack wird dagegen geradezu ein kleiner Spaziergang unter Wasser – im mare nostrum sozusagen – schließlich kennen die fünf sich ja bestens aus, haben eine Menge dafür bezahlt und können auch von anderen außergewöhnlichen Abenteuern berichten, eventuell. (Dabei ist die Tiefsee nach wie vor ein einziges Rätsel für die Erdlinge – von „unserem Meer“ zu reden reinste Hybris, sonst nichts.)

Und wenn schon die 500 Menschen im Calypso-Tief nicht zu retten waren,

da wollen wohl auch keine Retter Retter sein, dann doch bitte wenigstens die 5 von der Titan auf dem Weg zur Titanic retten. Das könnte doch wirklich an diesem längsten Tag im Jahr eine lange und spektakuläre Rettungsaktion werden, zumal Experten im Hintergrund leise ihre Expertisen durchreichen: Die kann man nicht retten. Das können wir noch nicht. Das Meer ist zu tief, der Wasserdruck zu hoch, die Dunkelheit zu dunkel, die Zeit für eine professionelle Planung viel zu kurz. Außerdem reicht der Sauerstoff nur noch bis morgen früh – vielleicht war der längste Tag des Jahres einfach lang genug.

Die Medien jedenfalls tun ihr Bestes, sind nah dran und halten uns auf dem Laufenden. Von wegen saure Gurkenzeit!